"Die Möwe" im Gorki Theater Tschechows schmierige Flattermänner

Sexuelle Bänkelballade mit echtem Bratwurstbraten: Das Berliner Maxim Gorki Theater eröffnet mit Katharina Thalbachs Inszenierung von Tschechows "Möwe".
Von Matthias Heine

Tragisch ist in Tschechows "Die Möwe", wie die Schauspielerin Arkadina das Talent ihres dichtenden Sohnes Konstantin aus Eigensinn ignoriert. Doch auch die Verkennung in die andere Richtung kann furchtbar sein: Denn ebenso tragisch ist, wie die Regisseurin Katharina Thalbach das Fehlen bestimmter Talente bei ihrer Tochter Anna ignoriert. Die ist zwar eine ganz wunderbare Filmschauspielerin, für das Theater fehlen ihr aber die elementarsten Voraussetzungen wie Stimme und Präsenz. Mit ihr als Nina klafft ein Loch im Zentrum von Thalbachs "Die Möwe"-Inszenierung im frisch renovierten Berliner Maxim Gorki Theater.

Weil feinere Seelentöne nicht zu Stande kommen, lässt die Regisseurin stattdessen eine ziemlich handgreifliche Bänkelballade spielen: Die Schauspielerin Arkadina knutscht den Schriftsteller Trigorin, an den sich außerdem ungeniert die Möchtegern-Aktrice Nina kuschelt, auf deren Unterleib sich wiederum der Jungdramatiker Konstantin stürzt. Währenddessen knöpft die Frau des Gutsverwalters dem Hausarzt Dorn die Weste auf. Im Verlauf des Abends - Übersetzer und Bearbeiter Thomas Brasch hat flott gekürzt - wird peinlich deutlich: So richtig verzweifelt, gelähmt, verrückt ist man hier nicht, man behauptet es höchstens. Man spielt Schmiere im Theater des Lebens.

Katharina Thalbach setzte also auf schmerzarme Turbulenz - und blieb an der Oberfläche kleben. Den Mut, alles als wahnwitzige, atemberaubende, pausenlose Groteske runterzureißen, fand sie nicht. Umso unglücklicher wirkt der Mischmasch aus Gefühl und Klamotte, aus Naturalismus (Bratwurstbraten in echt) und Abstraktion (Trigorin angelt dauernd im Goldfischaquarium).

Bühnenbildner Momme Röhrbein spannte vom Boden bis zur Decke Maschendraht vor die Bühne. Der Möwenkäfig illustriert das Gefangensein im Lebenspfusch. Dahinter bedeuten bewegliche Spiegelwände die Ausweglosigkeit im Lebenslabyrinth. Und die Ballettstange, an der ständig alle herumturnen, symbolisiert wahrscheinlich die Stange, auf der Tschechows Flattermänner und -frauen trotz ihrer Sehnsüchte hocken bleiben.

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