Digitale Öffentlichkeit Zeit für eine #Netzwende

Ja, es ist eine Krise, wenn viele Menschen von "Lügenpresse" sprechen. Wenn nur 40 Prozent der Deutschen den Medien eher oder ganz vertrauen - ergo, 60 Prozent das nicht tun und sich "Alternativmedien" suchen, die bislang nicht durch Recherche, dafür umso mehr durch Manipulationen aufgefallen sind.
Ja, und es ist auch nicht normal, wenn sich Leute in den Foren der Verlage und den sozialen Medien virtuell anmachen, anbrüllen und mitunter auch anschwärzen. Und es ist bedenklich, wenn auch bei Journalisten letzte Hemmungen fallen, die "Nutzer" mit billigsten Tricks auf die Seite zu locken, weil das nun mal das Geschäftsmodell ist.
Bislang versagte die Branche dabei, aus sich heraus Antworten auf die Krise zu finden. Es wird Zeit, sich Vorbilder außerhalb des Journalismus zu suchen - zum Beispiel bei der Umweltbewegung. Der Thinktank Vocer fordert analog zur Energiewende eine #Netzwende und hat sich vier Lektionen abgeschaut.
Analog zur Umweltbewegung, die mit der Energiewende ein umfassendes gesellschaftliches Umdenken bewirkt hat, fordert Vocer eine #Netzwende. Wenn Journalismus im Netz weiterhin relevant bleiben möchte, muss es wieder verstärkt um Qualität und Werte gehen, um Inklusion und Erkenntnisgewinn und darum, die digitale Öffentlichkeit mitzugestalten, statt in Abwehrkämpfen zu verharren.
Lektion 1: Wir brauchen eine Nachhaltigkeitsbewegung im Journalismus
Einer der ersten und zugleich wichtigsten Siege der Umweltbewegung war es, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Strom nicht gleich Strom ist. Eine ähnliche Unterscheidung lässt sich im Journalismus erkennen. Auf der einen Seite gibt es Fließband-Journalismus, der Erfolg alleine nach Reichweiten und dem Verkauf dieser Reichweiten an Werbetreibende bemisst. Auf der anderen Seite sehen wir den Journalismus, den die meisten Journalistenschüler im Sinn haben, wenn sie ihr Studium beginnen. Es ist der Journalismus, der den Wert der Pressefreiheit kennzeichnet: die vierte Gewalt. Dieser Journalismus befindet sich nunmehr in der Zwangsjacke des Reichweitenmodells, das meist nur dann funktioniert, wenn neben mehrheitlich solider bis fantastischer Arbeit zwischendurch mit schrillen Überschriften, boulevardesken Themen und unfertigen Thesen hantiert wird. Das Vertrauen in den Journalismus ist aus gutem Grund und aus eigenem Verschulden ramponiert. Der Grund dafür sind aber nicht böse oder faule Journalisten oder die gern vermutete Einmischung der Bundesregierung, der Grund ist ein ganz banaler: Geld.
Wenn heute mit Reichweiten Geld verdient wird, zählen die Regeln der Plattformen, und die belohnen Emotionen, Überzeichnungen und Unterhaltung - kurzum: Alles was "engaged", also Aufmerksamkeit bindet und Daten produziert, die dann verkauft werden können. Relativ neu ist dabei die Abhängigkeit des Reichweiten-Journalismus von den Plattformen des Social Web. Und neu ist damit auch, eine radikale Machtverlagerung über die Ausgestaltung der digitalen Öffentlichkeit von den Verlagen zu den Online-Plattformen.
Wie die Plattformen mit dieser Verantwortung umgehen, wird sich zeigen. Schon gezeigt hat sich, dass sich verantwortungsvoller Journalismus im Schreikampf der Überschriften im Netz kaum noch durchsetzen kann. Als Ergebnis stehen der Brexit und Trump-Phänomene, die als demokratische Entscheidungen unbestreitbar akzeptiert werden müssen. Die aber ebenso unbestritten von einer Informationsversorgung begleitet waren, die Fakten und Deutungen so sehr verzerrte, dass die kritische Öffentlichkeit in weiten Teilen kollabierte. Rückwirkend mag Trump einst vielleicht als Tschernobyl des Journalismus gedeutet werden: Ein Super-GAU der informierten Öffentlichkeit, der zum Umdenken zwingt.
Solange der Reichweiten-Journalismus zumindest begrifflich nicht von verantwortungsvoller Berichterstattung getrennt wird, wird das Vertrauen in "den Journalismus" weiterhin Schaden nehmen. Analog zum nachhaltigen Strom brauchen wir nachhaltigen Journalismus.
Lektion 2: Der Markt alleine wird es nicht richten
In den Anfangstagen der erneuerbaren Energien war es grenzenwahnsinnig, zu glauben, allein die Verbraucher würden den Wandel tragen. Strom aus erneuerbaren Energien schmeckt nicht anders, er riecht nicht anders, er sieht nicht anders aus und die Lampe glüht immer gleich hell - egal ob mit sauberen oder dreckigem Strom. Warum also sollten Verbraucher mehr bezahlen für Ökostrom? Gut, einige Menschen unterstützten Ökostrom aus Idealismus, so wie es momentan erfreulich viele Menschen gibt, die wieder ein Abo bei Qualitätspublikationen wie der "New York Times" bestellen oder gemeinnützige Organisationen wie "ProPublica" unterstützen. Aber genauso, wie erneuerbare Energien keine Chance gehabt hätten, wenn sie mit exakt den gleichen Marktregeln hätten konkurrieren müssen, so hat nachhaltiger Journalismus keine Chance, auf dem Markt zu bestehen.
Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, gibt es kein Geschäftsmodell für nachhaltigen Journalismus. Deshalb sollten Medienmacher offen sein für neue Geldquellen und aktiv danach suchen - bei den Öffentlich-Rechtlichen, bei staatlichen Stellen, bei Philanthropen und selbst bei Google und Facebook. Ja, diese Form der Finanzierung kann die redaktionelle Unabhängigkeit gefährden, aber wenn man ehrlich ist, gibt es uneingeschränkte redaktionelle Unabhängigkeit schon lange nicht mehr (wenn es sie denn überhaupt jemals gab). Inzwischen stellt sich das Gefühl ein, dass die Vertreter einer radikalen Marktlogik nur zu faul sind, nach Möglichkeiten zu suchen, die versprechen, neue Geldquellen mit journalistischer Integrität in Einklang zu bringen. Seit dem letzten Jahr geht es nicht mehr um Eventualitäten.
Lektion 3: Gleicher Zugang für alle statt Oligopole
Auch die Energiewende ist das Resultat einer Krise. Erst nach gravierenden Umweltkatastrophen wie Tschernobyl in den Achtzigerjahren und zuletzt Fukushima ist die Notwendigkeit einer Förderung alternativer Energiequellen in das öffentliche Bewusstsein gerückt. Der Energiesektor durchläuft einen fundamentalen Wandel, der seinen vorläufigen Höhepunkt im sogenannten "Smart Grid" finden soll, dem aktuell stattfindenden Umbau des Energienetzes.
Das "Smart Grid" ähnelt einer frühen Version des Internets, indem das Netz der Energie-Oligopolisten einem dezentralen Netz weicht, zu dem Kleinstproduzenten mit erneuerbaren Energien ebenso Zugang haben sollen wie die alten Riesen. Das ist ein im Wortsinne radikaler Schritt, denn er betrifft die komplette Infrastruktur des Energiemarktes. Und das ist vielleicht genau das, was auch die Entwicklung im Journalismus braucht, weil sich immer mehr Marktmacht in immer weniger Unternehmen konzentriert. Je nachdem, welcher Studie man Glauben schenkt, wandern von jedem Euro, der in Onlinewerbung investiert wird, zwischen 65 und 90 Cent in die Taschen von den Tech-Giganten Google und Facebook.
Lektion 4: Utopie statt Abwehrkampf
In den Achtzigerjahren war es nahezu undenkbar, dass wir in der Zukunft fossile Brennstoffe und Kernkraftwerke durch erneuerbare Energien ersetzen könnten. Heute kommt rund ein Drittel des Stroms aus erneuerbaren Quellen, der Ausstieg aus der Kernkraft ist in Deutschland nach Fukushima beschlossene Sache und das "Smart Grid" besitzt das Potenzial, das komplette Stromnetz auf den Kopf zu stellen.
Wer dafür plädiert, dass es auch bei der Lösung der Krise der Öffentlichkeit letztendlich um eine Infrastrukturfrage geht, der wird vermutlich für verrückter gehalten, als jeder Ökostrom-Hippie von damals. Überhaupt darüber nachzudenken, wie öffentlich-rechtliche Alternativen zu Facebook aussehen könnten, oder was nach Facebook kommt und wie Journalismus in Zukunft vertrieben werden soll, gilt pauschal als naiv. Dabei ist das Gegenteil richtig: Nicht über radikale Alternativen nachzudenken ist naiv. Wir sollten weiter an Innovationen arbeiten, Kooperationen anstoßen, mit Plattformen experimentieren und auf diese einwirken. Das ist alles wichtig und richtig, aber wirklich mutig und nachhaltig ist nichts davon.
Mut ist jedoch dringend notwendig. Wie man dem Machtzuwachs der Plattformen und dem opaken Wirken ihrer Algorithmen begegnen soll, ist die alles entscheidende Frage. Die Plattformen zu beschimpfen und sie in ein regulatorisch-politisches Korsett zu zwängen, ist deutlich weniger zielführend, als darüber nachzudenken, wie Alternativen aussehen könnten. Solange es keine digitalen Infrastrukturen gibt, die um die Informationsbedürfnisse einer funktionierenden Demokratie herumgebaut wurden (nicht um die Vermarktung von Reichweiten und Nutzerdaten), gibt es keinen Weg aus der Abwärtsspirale. Es ist Zeit für ein Umdenken.
Es ist höchste Zeit für eine #Netzwende.
Vocer vergibt in Kooperation mit dem SPIEGEL-Verlag, der August-Schwingenstein-Stiftung, der Rudolf Augstein Stiftung und der ZEIT-Stiftung erstmals den mit 10.000 Euro dotierten #Netzwende-Award (Homepage) . Bewerben können sich dort journalistische Start-ups und Projekte, die nachhaltige innovative Projekte auf den Weg gebracht haben. Bewerbungsfrist ist der 1. September 2017.