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Miniatur-Schaukästen: Leben und Leiden in Krakau

Foto: Richard Tuschman/ Courtesy Klompching Gallery, New York

Diorama-Fotografie Die Welt in einer Hutschachtel

Wie mag eine ultraorthodoxe Familie in den Dreißigerjahren mit Verlust und Trauer umgegangen sein? Richard Tuschman porträtiert mit einer ausgefallenen Technik Menschen in längst vergangenen Zeiten.

Konzentriert sitzt der Schneider in Arbeitshemd und Weste an einer Singer-Nähmaschine, sein Fuß bedient den gusseisernen Antriebshebel. Am Tisch neben ihm arbeiten Ehefrau und Schwiegermutter, beide tragen Blusenkleider und ihr Haar in akkuraten Wasserwellen. Die jüngere stiert ins Leere. Woran mag sie denken, wohin sehnt sie sich? Man spürt, dass die Stille in dieser Küche nur durch das regelmäßige Schnurren der Singer durchbrochen wird.

Das Bild "Working Morning" von Richard Tuschman ist eine Szene, wie sie sich in Krakau um 1930 wohl sehr gut abgespielt haben könnte. Ein Kohleofen und ein großes Spülbecken stehen in der Wohnküche, gusseiserne Pfannen hängen an der blassgrün gestrichenen Wand. Durch das geöffnete Fenster fällt die Sonne herein und lässt Risse im Putz erkennen. In einer nächsten Aufnahme sitzt die kleine Familie schweigend am Tisch vor einer einfachen Mahlzeit, eine Öllampe strahlt ungemütlich über ihren Köpfen. Später wird des Schneiders Frau in einem leer stehenden Haus auf dem Holzboden liegen und an die Zimmerdecke blicken, den Lippenstift verschmiert, die Bluse aufgeknöpft. Im Hintergrund zieht sich ihr Liebhaber die Hose wieder an.

"Once Upon a Time in Kazimierz" heißt die Serie des New Yorker Fotografen Tuschman, die eine fiktive jüdische Familie im Krakauer Stadtteil Kazimierz in den Dreißigerjahren porträtiert. Das Paar hat einen Sohn verloren, der in einigen Bildern dennoch wie eine Erscheinung zu sehen ist, durch die Trauer um das Kind haben sich Mann und Frau entfremdet.

Puppenhaus-Versionen

Was in den Bildern aussieht wie eine Hollywood-Kulisse, ist Ergebnis der besonderen Arbeitsweise Tuschmans. Die Wohnküche, den Kohleofen und die Nähmaschine gibt es in Wirklichkeit nicht - nur als Puppenhaus-Versionen. In aufwendiger Heimarbeit baut Tuschman die Kulissen als Miniatur-Schaukästen. In Fotografien dieser Dioramen montiert er die Porträts seiner Protagonisten. "Ich liebe es, diese kleinen Hutschachteln zu bauen. Aber es ist extrem zeitaufwendig", sagt Tuschman. Für die Fotoaufnahmen der Models und Hintergründe habe er etwa drei Wochen gebraucht. An den Kulissen bastelte er zwei Jahre.

Die Atmosphäre in den Bildern ist bedrückt und schicksalhaft, der nahende Holocaust lässt sich erahnen, doch der Schwermut setzt Tuschman auch Momente der Zuneigung und Zärtlichkeit entgegen. Seine Bilder deuten Geschichten und Beziehungen der Familienmitglieder an und lassen dem Betrachter dabei Spielraum für Interpretation.

Licht und Bildkomposition erinnern stark an Tuschmans vorige Arbeit "Hopper Meditations", wie in Gemälden Edward Hoppers blicken die Figuren auch hier in scheinbar schicksalhaften Momenten aus dem Fenster. Licht und Schatten stellen die dramatische Atmosphäre in seinen Bildern her. Diese Technik haben auch Vermeer, Rembrandt und Van Gogh eingesetzt, "ich kopiere nur die Arbeitsweise der Meister", sagt Tuschman.

Er möchte neben der Familiengeschichte auch jüdische Kulturgeschichte abbilden, so Tuschman, dessen Frau aus Krakau stammt und dort studiert hat. Die Geschichte hinter seinen Bildern habe er an den israelischen Film "My Father, My Lord" angelehnt, in dem eine ultraorthodoxe Familie einen Sohn verliert. "Verlust ist ein so starkes Thema, es fordert mich geradezu heraus", sagt Tuschman. "Für mich ergibt es mehr Sinn, mich mit diesem universell authentischen Gefühl zu beschäftigen, als mit einem Happy Ending."

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