S.P.O.N. - Der Kritiker Die Falle der Vernunft
Let's face it, der Mensch ist tot. Jedenfalls in seiner Eigenschaft als Herrscher, Gott und Strahlefürst, als Bestimmer über sich selbst und alle anderen Wesen auf dieser Welt, Steine und Farne eingeschlossen, als stolzes Vernunftwesen, als heiles Subjekt, wie ihn die Aufklärung versprochen und geschaffen hat. Und es war kein Kometeneinschlag, der ihn umgebracht hat, es waren keine Außerirdischen, keine Tiere, Vampire oder ähnlich böse Feinde - er hat es ganz allein besorgt, der Mensch mit seiner Vernunft. Das gehört zu den Paradoxien dieser Selbstentmachtung: Die Vernunft kann sich nur durch Vernunft selbst abschaffen, der Verstand kann sich nur mit Hilfe des Verstands selbst misstrauen.
Das ist in etwa die Geschichte seit Sigmund Freud, seit Michel Foucault, seit Dada und den Surrealisten und der Postmoderne und im Grunde überhaupt des 20. Jahrhunderts mit seinen grandiosen kriegerischen Vernichtungsorgien. Und es ist sonderbar und wie immer auch wunderbar, dass wir das am Beginn des 21. Jahrhunderts alles einfach noch mal durchspielen müssen. Vielleicht weil es doch eine zu große Kränkung ist. Vielleicht weil es doch nicht einfach so hinzunehmen ist. Posthumanismus, so nennt man das heute, oder auch das Ende des Anthropozentrismus. Man kann auch einfach den Vernunftverweigerer Arthur Rimbaud ein wenig umbiegen und sagen: Ich wohnt hier nicht mehr.
Und so bohren sie und bauen sie, sie reißen Wände ein und schlagen Durchbrüche, damit man den Himmel ahnt. Sie bringen Teile eines Hauses aus Chicago mit nach Kassel und spielen Jazz und trinken und sitzen und feiern und schaffen so eine hybride Wohnutopie, die aus der Unbehaustheit doch wieder zu einer Art von Kommune führt. Sie zimmern sich aus dem, was sie so finden im Park oder an Müll ein kleines ironisches und doch ganz funktionales "Walden".
So nannte Henry David Thoreau seine Holzhütte, tief im Wald des 19. Jahrhunderts, aber Thoreau ist sehr heutig, einerseits, und andererseits auch wieder weit weg, auf dieser verwirrenden, inspirierenden 13. Documenta, die Sie sich unbedingt anschauen sollten, und sei es nur, um den wunderschönen, traurigen, dürren, weißen spanischen Herrschaftshund zu sehen, dieses einsame adelige Wesen mit dem rosa Bein, der durch die Kunstwelt von Pierre Huyghe läuft, zwischen den Heilpflanzen und den Horrorpflanzen hindurch, durch die gute und die böse Natur, am Bienenkopf vorbei... Aber das müssen Sie selbst sehen.
Es geht um Angst auf dieser Documenta
Es sind die ganz einfachen und ganz schwierigen Fragen, die sie da in Kassel ganz entspannt stellen: Wer bin ich? Wer sind die anderen? Wie wollen wir leben? Warum bringen wir uns dann um? Was können wir wissen? Was ist die Welt? Es sind die Schichtungen des Wissens, die diese Documenta vorführt, die Fallen der Vernunft, die Gewissheit der Paranoia, das Alter des Gehirns, eine Tiefenbohrung von der Spätmoderne bis in die Frühzeit. 4000 Jahre alte Steinfiguren aus Afghanistan stellen die gleichen Fragen, mehr oder weniger, wie die DNA-Performance von Alexander Tarakhovsky - "The Brain" heißt dieser zentrale Ort, und man kann sich hier selbst beim Denken zusehen.
Diese Documenta führt die Überlegenheit der Kunst vor, weil Kunst eben eine Methode ist und keine Form, nicht festgelegt ist wie Theater, Film oder Literatur. Weil die Kunst damit so sehr dem entspricht, was diese Zeit fordert: verschiedene Dialoge zu bündeln, Bilder aus Syrien zu liefern, die man nicht vergisst, den Quantenphysiker als Nachbarn von Dalí zu begrüßen, den Traumata unserer Zeit nachzuforschen, der Chronologie zu entfliehen, Geschichten zu sammeln, die Welt zu erfassen, sinnlich wie intellektuell. Und so reichen die geistigen Verästelungen vom ökologischen Umfassenheitsdenken von Michel Serres und dem Feminismus von Judith Butler bis zu den dicken Denkbestsellern des Psychologen Daniel Kahnemans, der kräftig an der Vorherrschaft der Vernunft kratzt; oder dem spektakulären neuen Buch des Biologen Edward O. Wilson, "The Social Conquest of the Earth", der von der Zufälligkeit der menschlichen Herrschaft über diesen Planeten erzählt.
Es geht um Angst auf dieser Documenta, es geht um Krise und Zusammenbruch und auch wieder um Aufbruch, es geht um Orientierung irgendwo zwischen occupy-haftem Kommunardentum und einer Gegenwart oder eben Gegenwartskunst, die zehn Minuten oder zehn Jahre oder hundert Jahre alt sein kann. Gedächtnis ist eine Erfindung, sagt diese Schau, aber auch die Gegenwart ist eine Erfindung. Also ist alles, was sich uns jetzt, heute, in den weiten Parkauen oder im Fridericianum eröffnet, Zeitgenossenschaft. Die Dinge sind im Werden, sie haben eine Würde, alles ist versteckt, latent und offenbar zugleich. Und auch das ist eine zentrale Frage: Wir haben genug analysiert, was sollen wir tun?
Und weil das alles dann doch sehr emphatisch formuliert ist, ist diese Documenta natürlich auch eine sehr politische Schau, in dem Sinn, wie Politik heute funktionieren sollte: als Lehre davon, wie der Mensch leben soll, im Einklang mit sich, vor allem aber mit allen anderen. Aber vorgeführt wird das eben nicht als Forderung, sondern als Haltung.