
Doku-Boom auf der Bühne Theater muss wie Koks sein!
Die Realität hat Einzug gehalten in das Theater - und seine Kunstwelt so stark verändert wie nichts anderes in den vergangenen zehn Jahren: Auf der Bühne des Stadttheaters Fürth kämpften echte ehemalige "Quelle"-Mitarbeiter kürzlich mit den Insolvenz-Tränen. In den Münchner Kammerspielen geben zwei Schauspielerinnen Einblicke in ihr tatsächliches Privatleben als lesbisches Elternpaar und spielen mitsamt Kindern und biologischem Vater einen Tag aus ihrem Patchwork-Familienleben durch. Und in Berlin suchen gleich mehrere Regisseure fieberhaft nach Leuten, die biografische Ähnlichkeiten mit Alfred Döblins krimineller Romanfigur Franz Biberkopf aufweisen.
Das dokumentarische Genre boomt nicht nur - seine Formate haben sich auch stark ausdifferenziert. Die eine Fraktion glaubt, nur im Rückgriff auf historische Quellen fundierte Aussagen über Klimakatastrophe, Globalisierung und Sozialabstieg machen zu können. Die nächste klingelt mit Aufnahmegeräten an den Türen ausgewiesener Zeitgeist-Experten und sampelt aus den Interviews Bühnenshows zusammen. Und wieder eine andere stellt diese Experten - Kriegsveteranen, Handwerker, Wirtschaftstheoretiker oder Sexarbeiterinnen - gleich selbst auf die Bühne. Es gibt Avantgardisten und Trittbrettfahrer, laute Provokateure und leise Denker. SPIEGEL ONLINE stellt vier repräsentative Theatermacher vor und vergleicht ihre Ansätze.
Spontan einen Teller Spaghetti auf den Kopf - Bürgerbühne Dresden
"Das Moment des Authentischen hat eine große Kraft", sagt Wilfried Schulz, Intendant des Dresdner Staatsschauspiels. Er sorgte für den bisherigen Höhepunkt des Wahrhaftigkeitstrends, als er bei seinem Amtsantritt im Herbst 2009 die "Bürgerbühne" erfand. Hier darf einschränkungslos jeder Experte aus dem sächsischen Alltag, in dem das nötige exhibitionistische Herz schlägt, mitspielen: Unter Leitung der Dramaturgin Miriam Tscholl und wechselnder Regie-Profis entwickeln die Spielwütigen eigene Inszenierungen, mit denen sie die große Bühne bespielen. Am Samstag hatte bereits die dritte Bürgerbühnen-Produktion dieser Spielzeit Premiere: "Jugend ohne Gott" nach Ödön von Horváth. Einmalig an dem Dresdner Konzept ist nicht nur, dass das Staatsschauspiel dafür seine komplette Infrastruktur zur Verfügung stellt, Personal und Know-how inklusive. Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal besteht in der absoluten Offenheit: Vergleichbare Angebote an anderen Theatern richten sich in der Regel nur an spezifische Altersgruppen oder Milieus.
Die Dresdner Bürger entscheiden selbst, ob sie lieber Shakespeare, Hebbel oder eigene Stücke spielen möchten. Darauf, dass "alles, was dort stattfindet, von den Teilnehmern selbst ausgeht", legt Intendant Schulz tatsächlich besonderen Wert. Unter dem Motto "FKK - Eine Frauenkörperkomödie" beispielsweise beleuchten knapp zwanzig Frauen im Alter von 16 bis 66 Jahren mit immensem autobiografischem Anteil ihre Haltung zu Leib, Seele, Sex und Emanzipation. Im Musical "Anatevka" schmettern hauptberufliche Unternehmer, Schuldirektorinnen oder Sozialhilfeempfänger gemeinsam in großer Werktreue die Songs von Jerry Bock und Sheldon Harnick.
Gelebtes Leben, andere Geschichten
Vom enormen Erfolg ihres Angebots waren Schulz und Tscholl zunächst selbst ein wenig überrascht. Als sie im Herbst 2009 zu einem ersten offenen Treffen einluden, hatten sie mit 50, bestenfalls 100 Neugierigen gerechnet. Es kamen dann ganze 400 Leute, vom achtjährigen Schulkind bis zum 85-jährigen Rentner.
Die Bürgerbühne eröffne "eine Möglichkeit, nicht nur von der Quote, sondern auch von der sozialen Verpflichtung her ein anderes Publikum zu erreichen", erklärt sich Schulz das Phänomen. "Wir haben ja das Problem, dass von den Schauspielschulen immer nur nette junge Menschen mit drahtigen Körpern und hübschen Gesichtern kommen. Die Leute von der Bürgerbühne bringen dagegen ihr gelebtes Leben, andere Prägungen und andere Geschichten mit."
Zum Beispiel Ute Brückner. Als sie vor einigen Jahren zunächst arbeitslos und dann Rentnerin wurde, erzählt die 66-jährige frühere Fachschullehrerin, habe ihr vor allem der gewohnte Umgang mit Jugendlichen gefehlt. Auf der Bühne spielt sie sich jetzt mit dem 18-jährigen Richard Sachse die Bälle zu, der seinerseits hier seine Schauspiel-Leidenschaft entdeckt und sich an der Leipziger Theaterhochschule beworben hat. "Seit ich aus der Arbeitswelt ausgeschieden bin, hatte ich immer das Gefühl, dagegen ankämpfen zu müssen, von anderen als alter Mensch behandelt zu werden", sagt Ute Brückner, die Tscholl bei den Castings durch ziemlich spektakuläre Aktionen aufgefallen ist.
Mal fegte sie mit einer Stoffpuppe über die Probebühne, mal verteilte sie spontan einen Teller Spaghetti auf ihrem Kopf. Die Bürgerbühne sei einer der wenigen Orte, an denen sie nicht permanent als Seniorin wahrgenommen werde, denkt Brückner laut nach.
Die gebürtige Hamburger Psychologin Silke Körner, die ihrem Mann nach Dresden gefolgt ist, fühlte sich bislang sogar mit 49 Jahren als Theaterseniorin: "In jedem Laienspielclub, in dem ich auftauchte, war ich die Älteste." Wenn Silke Körner jetzt in "FKK" aus ihrer "frauenbewegten Hamburger Vergangenheit" berichtet, senkt sie zwar nicht direkt den Altersdurchschnitt. Aber sie befindet sich in allerbester Gesellschaft.
Die Bürgerbühne ist kein feststehendes Kollektiv. Für jedes Projekt werden neue Spieler gecastet. Und Tscholl achtet darauf, dass Debütanten eine Chance bekommen.
Die Nachfrage ist riesig: Knapp 800 Leute haben seit dem Start im Herbst 2009 bereits in Bürgerbühnen-Produktionen mitgewirkt; Tendenz steigend. Sieht ganz so aus, als sei der Experte des Alltags noch lange nicht fertig mit dem Theater.
Bürgerbühne Dresden im Staatsschauspiel Dresden, "Jugend ohne Gott" nach Horváth, Termine 18.1., 2.2.
Von indischen Callcenter-Angestellten durch Berlin gelotst - Rimini Protokoll
Statt sich theoretisch mit Kriegen oder Krisen zu befassen, kann man auch Soldaten und Klimaforscher selbst auf die Bühne bitten. So lässt sich die Komplexität der Politik anschaulicher vermitteln. Für diesen Trend steht das mittlerweile weltweit agierende Regiekollektiv Rimini Protokoll. Völlig undogmatisch vertreten Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel ihre Auffassung, "dass man gesellschaftliche Szenen besser da anschaut, wo sie passieren, statt sie mit geschminkten Schauspielern nachzuspielen".
Ungefähr seit 2000 lässt sich Rimini Protokoll deshalb auf der Bühne die Berufswelt von Totengräbern, Schöffen oder Pleitiers erklären, steckt seine Zuschauer mit bulgarischen Fernfahrern in teilverglaste LKW oder schickt sie auf Entdeckungstour durch Berlin-Kreuzberg. Und zwar ausgestattet mit Mobiltelefonen und einer Standverbindung nach Kalkutta: Bei Riminis Städtetour "Call Cutta" wurde man tatsächlich von indischen Callcenter-Angestellten durch den deutschen Hauptstadt-Dschungel gelotst - und erlebte einen der intelligentesten Globalisierungskommentare, die das Theater bis dato überhaupt aufzubieten hatte.
Kein Wunder, dass diese Form der Bühnenkunst mit "Alltagsexperten", wie Rimini Protokoll seine Akteure aus dem wahren Leben nennt, die meisten Nachahmer gefunden hat. Vor allem in der freien Szene plaudern allüberall Schornsteinfeger, Pädagogen oder hauptberufliche Ossis aus ihrem Leben. Und ganz besonders lustige Performancekollektive dokumentieren sich einfach selbst beim Kneipenbesuch oder beim Lachyoga.
Daimler-Hauptversammlung zum Theaterstück erklärt
Aber die wenigsten Trittbrettfahrer erreichen dabei die Qualität und Scharfsinnigkeit des Originals. Denn Riminis Experten sinnieren nicht einfach vor sich hin, sondern folgen dabei einem äußerst durchdachten Konzept. Haug, Kaegi und Wetzel setzen stets einen klaren thematischen Rahmen, den sie dann aus allen erdenklichen Perspektiven beleuchten. Als sich das Trio, lange vor dem Finanzcrash, Karl Marx' "Kapital" vornahm, wurde daraus ein ebenso unterhaltsamer wie breit angelegter Abend über ökonomische und ideologische Ressourcen. Neben einem aus der DDR stammenden Wirtschaftstheoretiker, der sämtliche Kernthesen aus dem Kopf zitierte, erzählte nämlich auch ein Unternehmensberater von schrägen Geldverbrennungsaktionen aus linken Jugendtagen. Ein Spielsüchtiger brachte seine äußerst konkrete Sicht aufs finanzielle Kapital ein, und ein blinder Marx-Leser und DJ sorgte für den entsprechenden Sound.
Riminis "Experten des Alltags" tappen dabei nicht in platten Authentizitätsfallen herum. Das Regietrio bezeichnet sie nicht schlichtweg als Darsteller, sondern als "Darsteller ihrer selbst". Ähnlich wie beim Readymade aus der bildenden Kunst, wo ein Gebrauchsgegenstand einfach durch die Rahmung zu einem Kunstobjekt wird, rückt auch Rimini Protokoll den Fokus stets auf die künstliche Theatersituation. Das verschiebt bekanntlich aufs Produktivste die Wahrnehmung.
Auf die Spitze getrieben haben Haug, Kaegi und Wetzel diese Suche nach der "Theatralität des Alltags", als sie 2009 mittels Aktienerwerbs Theatergänger ganz offiziell in die Hauptversammlung der Daimler AG im Berliner Messecenter einschleusten, die indirekt zum Theater erklärten und den Blick entsprechend unangestrengt auf alltägliche Inszenierungsmuster lenkten.
Hartz-IV-Empfänger, Migranten, Wutbürger - Volker Lösch
Bei Volker Lösch stand schon mal ein Daimler-Spitzenmanager auf der Bühne. Seinen Ruf als "Skandalregisseur" verdankt der 47-Jährige allerdings weniger den Top- als den Underdogs. "Theater muss wie Koks sein", findet der gelernte Schauspieler, der für eine entsprechend knallige Ästhetik steht und regelmäßig Chöre aus Hartz-IV-Empfängern, Migrantinnen und anderen Wutbürgern aufmarschieren lässt. Während der Proben führen Lösch und sein Team mit diesen Laienschauspielern Gespräche, die später zu Chortexten verdichtet werden. Chorleiter Bernd Freytag, der sein Handwerk beim Großmeister Einar Schleef lernte, paukt das Material dann bis zur Bühnenreife mit ihnen ein.
Er mache Stimmen hörbar, "die sonst keinen Weg in die Öffentlichkeit finden", glaubt Lösch. Immer wieder kommt es dabei zu - gemeinhin rar gewordenen - Theaterskandalen: Ein PR-Gut von unschätzbarem Wert. So wurde eine breite Öffentlichkeit auf den Regisseur aufmerksam, als die damalige Chef-Fernsehtalkerin Sabine Christiansen 2004 juristisch gegen dessen Dresdner Inszenierung "Die Weber" vorging. Ein Mitglied des aus ortsansässigen Laien bestehenden "Bürgerchores" hatte darin die Stammtischparole verkündet: "Wen ich als erstes erschießen würde, das wäre Frau Christiansen".
Es ist allerdings nicht nur dieses plakative Aufreger-Potential, das Volker Löschs Arbeiten etwa von denen des Regiekollektivs Rimini Protokoll unterscheidet. Während bei Haug, Kaegi und Wetzel die "Alltagsexperten" tatsächlich den alleinigen Dreh- und Angelpunkt bilden, sind Löschs Betroffenen-Chöre eher orchestrierendes Mittel zum Zweck. Im Kern greift der Regisseur auf konventionelle Theater- oder Romanstoffe zurück, die - meist in extremen Schrumpfversionen - auf der Bühne auch von Profi-Schauspielern dargeboten werden.
Vier angebliche Prostituierte
Den Betroffenen-Chören kommt dabei die Funktion zu, Staub von den alten Dramenfiguren zu klopfen und das Theater, so Lösch, "mit Texten und Bildern aus der unmittelbaren Wirklichkeit aufzuladen". Wenn zum Beispiel der Franz-Biberkopf-Darsteller Sebastian Nakajew am Beginn der Döblin-Inszenierung "Berlin, Alexanderplatz" aus dem Gefängnis kommt, meldet sich gleichzeitig ein Dutzend ehemaliger Strafgefangener zu Wort: "Ich habe meine Eltern bestohlen." "Ich habe wegen Betäubungsmittelhandel im Gefängnis gesessen." Oder: "Ich habe meine Lebensgefährtin umgebracht." Damit, dass sich Dieb, Dealer und Mörder durch das Sprechen im Chor nicht individuell identifizieren lassen, schützt der Regisseur sie vor allzu voyeuristischen Publikumsgelüsten.
Kritiker werfen ihm dennoch vor, "Sozialzoos" zu inszenieren: Eine strukturelle Gefahr, der sich prinzipiell jeder Regisseur aussetzt, wenn er lebensechte Gastspieler auf eine Bühne stellt, zumal aus sozialen Randgruppen. Ein Beispiel: Die Hartz-IV-Empfänger, die Lösch 2008 für seine Hamburger "Marat"-Inszenierung nach Peter Weiss castete, treten unter anderem als geist- und mittellose Plebejer auf. Sie prügeln sich um Gratis-Wahlplakate der CDU und lassen sich willfährig von dummen Motivationstrainern schurigeln. Werden die Stereotypen, mit denen sich solche sozialen Gruppen im Alltag sattsam herumzuschlagen haben, auf der Bühne damit nicht eher bestätigt als ausgehebelt; reale Demütigungen unbewusst wiederholt?
Diesen Vorwurf kann Volker Lösch gar nicht verstehen. Ob ausgewiesene Schauspieler in einer Bühnensituation, die ja immer einen fiktionalen Rahmen trage, stumpfsinnige Volksmassen geben oder reale Hartz-IV-Empfänger, mache für ihn keinerlei Unterschied.
Eigentlich könnte man das so keinesfalls stehen lassen. Wenn sich diese Debatte - einer Pointe sei Dank - nicht mittlerweile von selbst erledigt hätte. Wie sich bei Volker Löschs jüngster Berliner Inszenierung "'Lulu - Die Nuttenrepublik' nach Frank Wedekind mit Texten von Berliner Sexarbeiterinnen" herausstellte, waren vier der 16 Frauen keine Prostituierten, sondern Jungschauspielerinnen.
"Wir haben niemals behauptet, authentische Chöre auf die Bühne zu stellen", erklärte Lösch daraufhin der Presse. "Es gibt im Theater nichts Echtes. Da wird gespielt, behauptet, erfunden und konstruiert. Es geht um Theater-Figuren." Im Vordergrund habe von jeher die Authentizität der Texte gestanden, nicht die der Darsteller.
Könnte man sich dann nicht den ganzen Sozialchor-Casting-Aufwand sparen und von vornherein ausschließlich mit ausgebildeten Schauspielern arbeiten? Der Regisseur gibt zu: "Manchmal ist es wichtig und auch möglich, die Autoren der Texte ins Spiel einzubinden, und manchmal eben nicht. Das hängt vom jeweiligen Projekt ab." Mit Echtheitslabel allerdings lässt sich ein Theaterabend wesentlich besser verkaufen.
Selbstmordbomber auf Sendung - Hans-Werner Kroesinger
Hans-Werner Kroesinger ist gerade mal Mitte Vierzig. Beruflich darf er sich bereits als Veteran fühlen. Wie die Macher von Rimini Protokoll ist er Absolvent des Gießener Studienganges für Angewandte Theaterwissenschaften. Als er Anfang der neunziger Jahre den freien Kulturmarkt betrat, war an den jetzigen Reality-Boom noch nicht mal ansatzweise zu denken. Kein Mensch führte die Vokabel "Dokusoap" im Munde. Das Stichwort "Dokumentartheater" weckte bestenfalls Erinnerungen an uncoole Kampfschriften aus den Siebzigern. Und die früheren Kommilitonen zogen erst mal aus, das "Poptheater" zu erfinden, während Kroesinger allein auf weiter Flur Akten zum Deutschen Herbst, zur Überwachungsarchitektur von Gefängnisbauten oder zum Prozess gegen Adolf Eichmann wälzte. Die Recherche-Ergebnisse, die damals noch deutlich weiter entfernt lagen als einen Mausklick zu WikiLeaks, stellte er dann nicht etwa in zeigefingernden Basta-Theatershows aus. Sondern Kroesinger erfindet seit jeher vielschichtige Bühnenlaboratorien, in denen die Dokumente von den Schauspielern immer neu hin und her gewendet, ins Gegenlicht gehalten und aus allen erdenklichen Perspektiven durchleuchtet werden.
Das klingt anspruchsvoll - und ist es auch. 2000 Lektüre-Seiten, schätzt Hans-Werner Kroesinger ganz unaufgeregt, kommen bei der Vorbereitung auf ein neues Projekt im Schnitt zusammen. Die fünf Zeitungen, die er jeden Morgen standardmäßig durchblättert, sind da noch gar nicht eingeschlossen.
Die Interessen hinter den Massakern
Obwohl er wohl jede tagesaktuelle Topnachricht aus dem Stegreif referieren und mit Hintergrundinformationen versehen könnte, widersteht der Regisseur der Versuchung, sich thematischen Trends zu unterwerfen. Nicht, dass Inszenierungen wie "suicide bombers on air. PRIMETIME" oder "Kindersoldaten" keine Gegenwartsdebatten berühren würden. Aber zu Kroesingers vorrangigen Auswahlkriterien gehörte die Tagesaktualität noch nie. Wie in der neuen Produktion "Darfur - Mission Incomplete", die am Freitagabend in seinem Berliner Stammhaus HAU Premiere hatte, spannt er bei der Aufarbeitung von Krieg, Völkermord oder politischen Entscheidungen grundsätzlich einen komplexen historischen Bogen. Erst der Rückgriff auf zurückliegende Ereignisse und internationalen Kontext ermögliche es, so Kroesingers Überzeugung, aktuelle politische oder wirtschaftliche Interessenslagen hinreichend klar zu erkennen.
Das sogenannte Reale hat Hans-Werner Kroesinger deshalb nie in Authentizitätsversprechen gesucht. Wahrheiten scheinen für ihn bestenfalls punktuell auf - und zwar am ehesten in den Widersprüchen, die das gründliche Quellenstudium zutage fördert. Stets kombiniert er verschiedene Blickwinkel, Texte und Medien so miteinander, dass sie sich gegenseitig ergänzen, kommentieren oder aushebeln. Dokumente werden mit literarischen Texten konfrontiert, das Live-Schauspiel mit Videosequenzen oder Statistiken mit Augenzeugenberichten.
Das ist auch der Punkt, an dem sich Kroesingers Ansatz vom Dokumentartheater eines Rolf Hochhuth oder Peter Weiss aus den sechziger und siebziger Jahren unterscheidet. Zwar sieht sich der Theatermacher, der als einer der führenden Vertreter seiner Branche gilt, durchaus in der Traditionslinie dieses verdienstvollen Enthüllungsgenres. Auch er betrachtet das Theater ausdrücklich als "Informationsmedium" und "Analyse-Instrument". Anders als die älteren Kollegen verzichtet Kroesinger allerdings auf jede Form von Parteilichkeit. Ihn interessieren keine fertigen Bilder oder Haltungen, sondern die Baupläne oder Argumentationslinien dahinter. Statt Standpunkte einzunehmen, will Kroesinger "den Mechanismus durchschaubar machen, in dem wir agieren".
Nicht jeder hat Lust, sich dieser fruchtbaren Anstrengung zu unterziehen. Manchem Kritiker gilt Kroesingers Theater als zu "spröde und anspruchsvoll". Der Regisseur reagiert darauf nicht beleidigt. Im Gegenteil: "Es ist halt eher ein Arbeits- als ein Erlebnisangebot", kontert er nickend.
Hans-Werner Kroesinger: "Darfur - Mission Incomplete" im HAU Berlin, bis 18.1.