Dokumentar-Theater Das Unfassbare fassen
Es ist die Frage, die sich wohl jeder gestellt hat, als er die Schilderungen dieses grausamen Verbrechens beim morgendlichen Frühstück in der Zeitung las: Wie können Menschen so etwas tun? "Unfassbar", "unvorstellbar", diese Worte kamen in fast allen Berichten über den Mord von Potzlow vor.
Der Filmemacher Andres Veiel ("Black Box BRD", "Die Spielwütigen") gab sich mit diesen Worten, die nichts erklären, nicht zufrieden. Er wollte tatsächlich eine Antwort auf die Frage: Wie können Menschen so etwas tun? Also fuhr er nach Potzlow, in das Dorf in der Uckermarck, in dem im Juli 2002 drei junge, schwer betrunkene Männer (zwei Brüder, damals 17 und 23 Jahre alt, und ihr 17-jähriger Freund) den 16-jährigen Marinus, ebenfalls aus dem Dorf, stundenlang quälten. Am Ende zwangen die Männer ihr Opfer, in den Rand eines Schweinetrogs zu beißen und sprangen auf seinen Hinterkopf, bis er starb. Es gab Zeugen und Mitwisser, aber erst nach fünf Monaten ging jemand zur Polizei.
Natürlich hatte im Dorf erstmal keiner Lust, zu reden die Medien waren alle schon dagewesen und hatten geschildert, was sie sahen: Arbeitslosigkeit, Alkohol, Rechtsradikalismus, Wende-Verlierer.
Alles nicht falsch, aber in Veiels Augen zu kurz gegriffen. Mit viel Geduld und Hartnäckigkeit schafften es der Filmemacher und seine Mitarbeiterin Gesine Schmidt, die Leute wirklich zum Reden zu bringen. Sie sprachen mit den Täter-Brüdern, deren Eltern, mit Freunden des Opfers, Vertretern der Staatsanwaltschaft und Menschen aus dem Dorf.
Veiel, der auch ausgebildeter Psychologe ist, kam zu der Erkenntnis: "Die Gewalt der Tat beginnt nicht in dieser Nacht, auch nicht mit dem Zerfall der Dörfer nach der Wende. Bei genauerem Hinsehen findet sie sich fortwährend in den Lebensgeschichten der Beteiligten und ihrer Familien."
Veiel entschloss sich, aus diesen Gesprächen keinen Film zu machen, sondern ein dokumentarisches Theaterstück, das er selbst inszenierte. Wobei Inszenierung das falsche Wort ist, denn es geht gerade darum, den Medieninszenierungen etwas entgegen zu setzen. Der Regisseur lässt die von ihm und Gesine Schmidt montierten und verdichteten Original-Aussagen aller Beteiligten nur von zwei Schauspielern sprechen, die nicht viel mehr tun, als gelegentlich ihren Standort auf der kargen Bühne zu wechseln und eben zu sprechen. Jeglicher Voyeurismus, jegliche Ablenkung werden so verhindert. Man starrt nicht auf die Gesichter der Betroffenen in Großaufnahme, lauert nicht auf (erwartbare) Gefühlsausbrüche oder ihr (verdächtiges) Ausbleiben, sondern hört endlich, was sie zu erzählen haben. Leichter zu ertragen ist es deshalb nicht.
Die Inszenierung mit den Schauspielern Susanne-Marie Wrage und Markus Lerch feierte schon im April 2005 Premiere, hat seitdem aber nichts an Aktualität eingebüßt. Nun ist sie für sieben Tage in Stuttgart zu sehen. Eine Produktion, die nicht zu der heiteren Sommerstimmung passt, die andere Theater gerne zu dieser Jahreszeit mit ihrem Programm zu verbreiten suchen. Aber auch der Tag, als Marinus ermordet wurde, war ein heißer Sommertag.
Der Kick. Stuttgarter Premiere am 10.7. im Kammertheater des Schauspiel Stuttgart. Weitere Vorstellungen bis 17.7., Tel. 0711/20 20 90.