"Drôle de Guerre" 2009 Wo bitte geht's zum Wahlkampf?

Dienstwagenaffäre statt Kandidatenduell, Ackermann-Sause statt heißer Wahlkampfphase: Vier Wochen vor der Wahl zeigen sich die Parteien schlapper als je zuvor - als hätten sie sich den Krieg erklärt, aber keine Lust anzugreifen. Warum auch? Wirklich etwas verändern will niemand.
Von Reinhard Mohr
Kandidat Steinmeier beim Weingummi-Sortieren (in Emmerich): Buddhistische Grundhaltung

Kandidat Steinmeier beim Weingummi-Sortieren (in Emmerich): Buddhistische Grundhaltung

Foto: A3512 Roland Weihrauch/ dpa

Es ist schon wunderbar, was man so alles erfährt in der heißen Phase des Bundestagswahlkampfs: Angela Merkel schreibt freitags ihrem Mann einen detaillierten Einkaufszettel und backt am Wochenende leckeren Johannisbeerkuchen. Frank-Walter Steinmeier bekennt beim Rundgang in den Filmstudios Potsdam-Babelsberg, Studioarchitekt wäre kein Beruf für ihn, weil ja alles "nach drei Tagen wieder eingerissen wird". Guido Westerwelle ist sauer, weil keiner richtig mit ihm spielen will, obwohl er jetzt doch so groß und stark geworden ist - nicht mal "Mutti" Merkel -, und Jürgen Trittin fällt vor allem durch seine gereifte Souveränität auf, mit der er die Rolle des grünen "Elder Statesman" anpeilt, nachdem Joschka Fischer außer Sichtweite ist.

Obendrauf noch gibt es ein paar würzige Zutaten, die die Volksseele wenigstens ein bisschen in Wallung bringen: Die spanische "Dienstwagenaffäre" von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt - "Arriba Alicante, olé, olé!" - und, gleichsam als Revanche, den Ackermann-Abend im Kanzleramt - ein Spargelessen auf Staatskosten vor fast anderthalb Jahren. Unfassbar!

Seit Wochen geht das nun schon so - eine Art Sitzkrieg, ein "Drôle de Guerre" wie im Herbst 1939, als England und Frankreich Hitler-Deutschland nach dem Überfall auf Polen den Krieg erklärten, aber nicht angriffen.

Und allerorten wird besorgt gefragt: Wo bleibt er denn, der echte Wahlkampf, die heiße Auseinandersetzung über die Zukunft des Landes, der Streit über Parteiprogramme, Personen und politische Ziele?

Kurz: Warum zofft sich niemand richtig?

Die überraschend naheliegende Antwort wird offenbar erst gar nicht erwogen: Weil zum handfesten Zoff, zum erbitterten ideologischen Stellungskrieg gar kein wirklicher Grund vorliegt. Der Autor und Ex-"Stern"-Chefredakteur Michael Jürgs hat als einer der ganz wenigen Menschen in diesem Lande alle Parteiprogramme tapfer bis zum Ende durchgelesen und kommt zu dem klaren, wenn auch nicht gänzlich überraschenden Schluss: Sie ähneln sich sehr!

Selbst Gregor Gysi fordert "Reichtum für alle"

Aller sonstigen Rhetorik zum Trotz will selbst Lafontaines "Linke" den Kapitalismus nicht stante pede abschaffen und dafür die Planwirtschaft samt LPG und Kombinat wieder einführen. Im Gegenteil: In Berlin fordert Gregor Gysi auf Plakaten Kapitalismus pur: "Reichtum für alle!" Bei Ludwig Erhard, dem Vater von Marktwirtschaft und "Wirtschaftswunder", hieß es "Wohlstand für alle!" Na bitte, man versteht sich doch.

Zunächst ist klar: Nach vier Jahren Großer Koalition müssen sich die Regierungspartner, die auch noch gemeinsam die schwere Finanz- und Wirtschaftskrise durchzustehen hatten, erst wieder in die verschiedenen Ecken des Sandkastens begeben, die Truppen sammeln, ein wenig Kriegspielen üben und die Backförmchen aufeinander türmen - immer zum Wurf bereit.

Hinzu kommt, dass der sozialdemokratische Kanzlerkandidat Steinmeier, das nun wirklich letzte Aufgebot der ruhmreichen Arbeiterpartei, nicht nur schon von Amts wegen ein zum Konsens tendierender Chefdiplomat ist, sondern auch vom Temperament her das gerade Gegenteil eines glühenden Wahlkämpfers, der Marktplätze zum Überlaufen und Versammlungssäle zum Kochen bringen kann.

Und schließlich hat der seit Monaten schier unangreifbare Vorsprung der Kanzlerin und ihrer Partei in sämtlichen Meinungsumfragen eine resignative, beinahe buddhistische Grundhaltung bei Sympathisanten, Wählern und sonstigen Zeitgenossen befördert. In einem Wort: Die Sache scheint entschieden.

Eine "andere Republik" wollen nur noch die Nazis von der NPD

Am wichtigsten aber: Viele Beobachter und Kommentatoren wollen offenbar nicht zur Kenntnis nehmen, dass sich die Zeiten grundlegend geändert haben. Schienen noch vor 30 Jahren gesellschaftspolitische und moralische Abgründe zwischen Willy Brandt und Franz Josef Strauß, Helmut Schmidt und Alfred Dregger zu liegen, so muss man heute schon mit der Lupe suchen, wo denn die dramatischen Gegensätze zwischen Ursula von der Leyen und Wolfgang Tiefensee, Peer Steinbrück, Kulturminister Neumann und, last but not least: Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier eigentlich liegen. Gegenüber Arbeitsminister Olaf Scholz (SPD) wirkt sein Amtsvorgänger unter Helmut Kohl, Norbert Blüm (CDU) wie ein zu allem entschlossener Revolutionär.

Nicht einmal den neuen Shooting-Star der Christdemokraten, Wirtschaftsminister Karl Theodor zu Guttenberg (CSU), können sozialdemokratische Wahlkämpfer zum neoliberalen Ungeheuer stilisieren. Im Gegenteil: In seiner korrekt-kantigen, zugleich etwas altertümlich höflichen Art wirkt er schon wieder moderner, frischer und zukunftsfroher als SPD-Chef Franz Müntefering, dessen Zigarillostümpfe nur noch müde Rauchzeichen einer vergangenen sozialdemokratischen Epoche aussenden. Herbert Wehners Pfeife lässt grüßen.

Da verpufft selbst Kritik am angeblich marktradikalen Konzeptpapier aus dem Wirtschaftsministerium, das Guttenberg am vergangenen Sonntag in der Sat.1-"Wahlarena" sogleich zur belanglosen "Stoffsammlung" degradierte. Auch Vorwürfe, der Minister bediene sich internationaler Wirtschaftskanzleien, um komplizierte Gesetzentwürfe zu formulieren, prallen an der schnöden Wirklichkeit ab: Auch SPD-Minister lassen sich gerne und oft von aushäusigen, gut bezahlten Experten helfen. Und in Sachen Finanzmarktkontrolle sitzen die Kontrahenten ohnehin sämtlich in ihren jeweiligen Glashäusern: Ausgerechnet unter Rot-Grün etwa wurden Vorschriften für Hedge Fonds und den Kapitalmarkt gelockert.

"Sie wollen eine andere Republik!" schmetterten sich einst Sozial- und Christdemokraten gegenseitig ins Gesicht. Heute würden derartige Sprüche im Wahlkampf nicht mal mehr ein müdes Lächeln hervorrufen. Eine andere Republik - das wollen nur noch die Nazis von der NPD.

Nicht Kampf, sondern Krampf

Man kann es auch so formulieren: Die Sozialdemokratisierung Deutschlands ist abgeschlossen. Was bleibt, ist nicht Kampf, sondern Krampf.

So betteln die Sozialdemokraten geradezu inständig darum, Angela Merkel möge sich "endlich stellen", am besten im "Mittelkreis".

Doch selbstverständlich hat die Kanzlerin nicht nur aus ihren Gesprächen mit Josef Ackermann (dies- und jenseits von Abendessen im Kanzleramt), sondern auch mit "Kaiser" Franz Beckenbauer gelernt.

Fußballerregel Nummer 1: Wenn Du mit 3:0 vorne liegst, müssen die anderen kommen. Und zwar in deinen Strafraum.

Taktisch macht Angela Merkel da bislang (fast) alles richtig, und Steinmeiers Unfähigkeit, über die Flügel anzugreifen, ist ihr größter Trumpf. Warum soll sie sich mehr bewegen als nötig, wenn die gegnerische Mannschaft, das "Team Steinmeier", sich die Bälle am Mittelkreis planlos zukickt - ohne jeden Raumgewinn.

Und noch etwas. Auch die Bürger haben dazu gelernt. Zwar benehmen sie sich zuweilen immer noch wie Kinder, die stur und steif darauf beharren, Papa habe ihnen doch vor der Wahl ein Schokoladeneis versprochen, und zwar steuerfrei, aber mehr und mehr ist ihnen klar, wie Wahlkampfversprechen zu nehmen sind: In einer Mischung aus Skepsis, schwarzem Humor und einem Fünkchen Hoffnung, wenn's denn dem Seelenheil dient. Man weiß ja nie.

In dieser vergleichsweise abgeklärten Haltung sind Jahrzehnte deutscher Demokratie-Erfahrung aufbewahrt, und nicht zuletzt die erstaunliche Gelassenheit, in der die Bürger bislang durch die Krise gesurft sind, zeigt, dass auch hierzulande längst nicht mehr alles todernst und wortwörtlich genommen wird. Lieber genießt man den schönen Spätsommer und sortiert schon mal die Urlaubsbilder.

Wohlfeile Politik(er)verachtung

Die eben gerade beginnende Saison der Wahl-"Extra"-Sondersendungen und aktuellen politischen Talkshows zeigt schon, was in den nächsten vier Wochen auf uns zukommen wird.

Warum sollte eigentlich ausgerechnet jene kurze Zeitspanne von vier bis sechs Wochen "heißer" Wahlkampf zur Grundlage der Wahlentscheidung gemacht werden, in der erfahrungsgemäß am meisten gelogen, betrogen, drum herum geredet und beschönigt wird?

Wäre es nicht viel sinnvoller, sich die gesamte Legislaturperiode, also die vergangenen vier Jahre von Regierung und Opposition, vor Augen zu führen und dann ein ganz persönliches Resümee zu ziehen?

Das freilich geht nur, wenn man sich regelmäßig informiert hat, und da liegt natürlich der Stallhase im Pfeffer oder besser: der Dienstwagen in der Sierra Madre: Unwissenheit ist gefährlich, und "der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer", wie der spanische Maler Goya schon vor 300 Jahren wusste. Wie schnell kann reflektierte Gelassenheit in desinteressierte Gleichgültigkeit umschlagen. Ihr Tiefpunkt ist jene wohlfeile Politik(er)verachtung, die sich in Boulevardmedien genauso austobt wie in gedankenlosen, ressentimentgeladenen Internet-Blogs.

So offenbart dieser bislang ziemlich drollige (Nicht-)Wahlkampf 2009 sein Janusgesicht: Einerseits die Abgeklärtheit demokratischer Normalität, die sich allen Aufregungen und Missständen zum Trotz selbstbewusst behauptet, andererseits die Gefahr, dass die politische Auseinandersetzung vollends zur Sache einer kleinen informierten Minderheit wird.

Durch hysterisches Schaumschlagen und Skandalisieren - jüngstes Beispiel: die angebliche "Geburtstagssause" für Deutsche-Bank-Chef Ackermann im Kanzleramt - ändert sich daran jedenfalls gar nichts.

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