E-Mail aus Hollywood Opern-Poker in L.A.
Sie ist immer noch schön. Marthe Keller, 58 Jahre alt, 60 Filme schwer, hat nichts von ihrem Enthusiasmus eingebüßt. Die Schweizer Schauspielerin hat ihren Wohnsitz mal in Paris, mal in New York oder wohin auch immer die Kunst sie treibt.
Soeben hat sie an der Oper von Los Angeles "Lucia di Lammermoor" inszeniert, ein Drama im schottischen Nebel, das der Italiener Gaetano Donizetti 1835 für das neapolitanische Teatro San Carlo komponierte. Die Dramatik der zwischenmenschlichen Beziehungen ist Marthe Keller, die nie verheiratet, aber acht Jahre mit Al Pacino liiert war, vertraut. Allein die Arbeit auf der Opernbühne, "das war so anders" für sie als die Theaterwelt oder der Filmset. Mit Dustin Hoffman hat sie "Marathon Man" gedreht, mit Pacino "Booby Deerfield" und Billy Wilder, der sie 1978 als "Fedora" engagierte, war vernarrt in sie und sah in der Schweizerin eine neue Marlene Dietrich.
Die Sänger, beklagt Madame Keller, die vor "Lucia" erst eine Oper inszeniert hatte, "Dialogues des Carmélites" des Franzosen Francis Poulenc, werden nicht etwa vom Regisseur ausgewählt, sondern vom künstlerischen Direktor engagiert. Am Drehbuch, den Texten traditioneller Opern - sind keine Korrekturen möglich und was tun, wenn die Sänger "tolle Stimmen haben", sich jedoch auf der Bühne "nicht ausreichend dramatisch oder sicher bewegen können?"
Marthe Keller kannte die Problematik, als Placido Domingo ihr die Inszenierung anbot, zumal ihr Freund Patrick Cheraud ihr von Proben in Bayreuth erzählt hatte und seinen Problemen, die Sängerschar von theatralischer Dramatik zu überzeugen. Nach der Generalprobe sagte ihm einer der Stars: "Wir hatten eine wunderschöne Zeit bei den Proben, ab heute singe ich."
Als Schauspielerin, sagt Keller, "lernst du deinen Text und konzentrierst dich auf die Person, die du darstellen sollst". Als Opernregisseurin hingegen musste sie sich um Blitz und Donner für die Inszenierung, um Kostüme und Jagdhunde mühen. Sie habe die Aufgabe "ernst genommen und ihre Hausarbeiten gemacht." Immerhin: Das Publikum jubelte nach der Premiere auch Marthe Keller zu, die sich - im eleganten Hosenanzug und mit offenen Haaren - artig verneigte. Der Applaus freilich vertrieb ihre Zweifel nicht: "Die Kritiker sehen das vielleicht anders." In der Tat: Der Opernkritiker der "Los Angeles Times" beurteilte ihre Inszenierung in kritischen Tönen und lobte stattdessen die "Lucia" als "umwerfend" und "atemberaubend" - sie wird von Anna Netrebko gespielt, der 32-jährigen Sopranistin aus St. Petersburg, die von Kritikern bereits als neue Maria Callas gefeiert wird.
Zumindest von ihrer Erscheinung her hat die mit einem italienischen Kollegen liierte Russin die Griechin bereits übertroffen: Die "New York Times" attestierte ihr einen "Audrey-Hepburn-Look". Für Anna, bestätigte Placido Domingo, ein Mann, der weibliche Schönheit beurteilen kann wie kaum ein anderer seiner Zunft, kann man den Satz "When the fat lady sings" nicht mehr verwenden. In dem Video, mit dem eine ihrer CDs vermarktet werden soll, tritt die "junge Diva" ("New York Times") sogar im Badeanzug auf. Bis 2007 will die "Deutsche Grammophon" gleich fünf CDs von ihr vermarkten.
Marthe Keller und Anna Netrebko personifizieren die dramatische Veränderungen, die Placido Domingo und sein deutscher Kompagnon Edgar Baitzel auf ihrer Bühne versuchen - Oper goes Hollywood. Ungewöhnliche Regisseure wie Maximilian Schell, William Friedkin, Julie Taymor ("König der Löwen"), oder die Tanztheater-Regisseurin Lucinda Childs (eine Bob-Wilson-Vertraute), die Christoph Willibald Glucks "Orfeo ed Euridice" in Los Angeles minimalistisch, romantisch auf die Bühne brachte, bestimmen das Programm.
Längst sind die Opernstars nicht mehr nur Frauen, deren körperliches Volumen das der Stimmen überragt, sondern Schönheiten wie die Operndiva Denyse Graves, die in Domingos Nachwuchswettbewerb "Operalia" entdeckte Argentinierin Virginia Tola oder eben Anna Netrebko, der Valery Gergiev, künstlerischer Direktor des "Kirov" 1994 ihre erste Rolle anbot, die Susanna in der "Hochzeit des Figaro".
Die Russin, so hat sie sich in einem Interview mit der "New York Times" bekannt, ist in den frühen Zeiten ihrer Karriere zu einer Aufführung alkoholisiert auf die Bühne getreten. Sie sei so betrunken gewesen, dass sie bei einer Pusteprobe der Polizei womöglich ihren Führerschein verloren hätte. Es war ihr Geburtstag. Schon damals war sie ein "enfant terrible", das auch heute so wenig in die herkömmlichen Klischees einzureihen ist, wie die gewagten Inszenierungen in Los Angeles. Julie Taymor etwa arbeitet gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Elliot Goldenthal (der für seine "Frida"-Filmmusik mit dem "Oscar" ausgezeichnet wurde) eine Oper über das Beowolf-Monster Grendel, die in Los Angeles uraufgeführt werden soll.
Oper ist, meldete die "Los Angeles Times" auf der Titelseite, in den USA eine "zunehmend populäre Kunstform". In den letzten zwei Jahrzehnten registrierten die amerikanischen Musiktheater rund 40 Prozent Zuschauerzuwachsraten. 6,6 Millionen US-Bürger haben im vergangenen Jahr mindestens einmal ein Opernticket gekauft. Da das amerikanische Musiktheater nahezu ausschließlich von Privatiers finanziert wird und Kritiker, nicht nur am Broadway, die Aufführungen durch ihre oftmals ätzenden Auslassungen zerstören können, enthält allerdings jeder avantgardistische Versuch, so Edgar Baitzel, auch "ein erhebliches Risiko".
Auch Marthe Keller, die Kritiken, gute wie böse, erst Tage nach ihrer Veröffentlichung liest, weiß inzwischen, dass Opern-Inszenierungen "wie Poker sind." Bei fünf, sechs Inszenierungen "gelingt vielleicht einmal der große Wurf." Sie weiß von den Erfahrungen ihrer Kollegen, wie etwa Roman Polanski, der in Paris und München mit Operninszenierungen scheiterte.
Oper, das sei eigentlich ohnehin nicht ihre Musik, Bartok war der Schweizerin stets näher als der "Schwanensee", und Mahler bewegt sie mehr als die "Walküre". Marthe Keller wird gleichwohl in den ersten Monaten des neuen Jahres an der New Yorker "Met" den "Don Giovanni" inszenieren, womöglich ihr letzter Operneinsatz. Danach wird sie wieder einen Film drehen, ein Projekt, über das sie schweigen will, bis der Vertrag unterschreiben ist. Aber ganz gleich was sich entwickelt, sie will auf die Bühne zurück, weil sie nur dort "künstlerisch atmen, leben" und sich verwirklichen kann. Der Tod ihrer Mutter vor wenigen Wochen hatte ihre Kreativität, ihren Enthusiasmus kurzfristig gelähmt, nun aber hat sie wieder Neugierde gepackt. Herausforderungen, neue Projekte. Auch mit 58 darf eine Frau noch träumen.