119,9 Millionen Dollar für Munch-Bild Zum Schreien teuer

119,9 Millionen Dollar für Munch-Bild: Zum Schreien teuer
Foto: MARIO TAMA/ AFPDas Ganze dauert nicht mal 13 Minuten. Doch es sind Minuten, die die Welt des Kunsthandels vor Wollust erzittern lassen. "Dies", seufzt Tobias Meyer hinterher, "ist der Traum eines Auktionators."
Meyer, ein gebürtiger Frankfurter, ist Chef-Auktionator bei Sotheby's und selbst ein Mega-Star der Szene. Sie nennen ihn den "James Bond des Kunstmarkts", wegen seiner Top-Connections und seiner Contenance. Die verliert er auch am Mittwoch nicht, vom feinen Schweißfilm auf seiner Stirn mal abgesehen. Dabei ist dies der Höhepunkt seiner Karriere.
Los Nr. 20: "Und nun", sagt Meyer, und die Drehbühne hinter ihm offenbart den Hit des Abends, "zu einem bedeutenden Moment." Es ist ein ziemliches Understatement, geht es hier doch um einen Weltrekord. Ein Raunen wogt durch den Saal. Handy-Kameras klicken leise.
Edvard Munchs "Der Schrei" ruht auf einer Staffelei, flankiert von zwei bulligen Wärtern in blauen Schürzen. Das ikonische Pastellbild, in seinem schlichten Original-Holzrahmen von 1895, wirkt klein, unscheinbar, fahl, fast wie von einem Kind mit Wachsmalstiften gekritzelt. "Ich beginne die Gebote bei 40 Millionen", sagt Meyer. Sofort schnellen die Schildchen hoch.
Gebräunt, gebleicht, geliftet

Munch-Versteigerung: Triumph über den ewigen Rivalen
Die New Yorker Auktion des Gemäldes, die am Mittwoch mit 119,9 Millionen Dollar einen neuen Rekord für ein versteigertes Kunstwerk setzt, wird zum Krimi. An die 1000 Interessenten und Schaulustige hocken gebannt auf Polsterstühlen im siebten Stock von Sotheby's auf der Upper East Side.
Die ganze Society scheint da zu sein. Nicht die, die man aus den Klatschspalten kennt. Sondern die, die das wahre Geld haben: Finanzhaie, Bankiers, Mogule, Mäzene, Sammler. Alte Herren und junge Playboys, begleitet von alterslosen Ladys in funkelnder Abendgarderobe, gebräunt, gebleicht, geliftet und mit Diamanten bestückt.
Sie sind über einen roten Teppich auf der York Avenue gestakst, wie zu einer Filmpremiere, von Paparazzi umflittert. Sie haben im Foyer Champagner geschlürft, an Stehtischen mit kleinen Kerzen, und sich einander Luftküsschen zugeworfen. "Geht es dir gut?", "Wie schön, dich zu sehen!" - Es ist der Event der Saison.
Nicht nur wegen Munchs "Schrei". Der Markt boomt wieder, jedenfalls im Vergleich zu den Magerjahren der Rezession. Kunst ist begehrt wie eh und je, als Trophäe und Accessoire, das schnödem Mammon einen Anstrich von Kultiviertheit verleihen möge. Die "ein Prozent" sind keine Banausen, die das Geld einfach nur einsacken. Sie wissen es ja auch gepflegt auszugeben.
Turbulente Geschichte
Dafür sorgt Tobias Meyer, mit Gestik und gurrendem Ansporn - eine clevere Choreografie, die er in seinen 20 Jahren hier perfektioniert hat, um zögernden Bietern die letzte Million abzujagen. Nicht viele Bilder sind derart einprägsam wie Munchs "Schrei" - Leonardo da Vincis "Mona Lisa" zum Beispiel. Als Sinnbild eines "kosmischen Pessimismus" ("Financial Times") wurde es verbrämt, vermarktet und verhökert - eine schamlose Kommerzialisierung, die bei Sotheby's ihren fieberhaften Höhepunkt findet. Um diesen zu multiplizieren, hat Sotheby's den "Schrei" vorab auf Welttournee geschickt. Top-Klienten durften es sogar privat begutachten.
Munch ahnte es, der Norweger selbst malte einst bereits vier Versionen. Die, die bei Sotheby's unter den Hammer kommt, ist aber die einzige, die bisher in privater Hand war. Die drei anderen hängen in Osloer Museen, aus denen zwei von ihnen schon mal spektakulär gestohlen und später wiedergefunden wurden.
Aber auch der "Schrei" von 1895 hat eine turbulente Geschichte, was den Hype nur noch steigert. Wohl im Auftrag des Braunschweiger Kaffeemagnaten Arthur von Franquet gemalt, kam das Bild in den Besitz des norwegischen Reeders Thomas Olsen, eines Nachbarn Munchs, der es im Krieg in einer Scheune vor den Nazis versteckte. Sein Sohn Petter Olsen erkämpfte sich das Gemälde 2001 in einem bitteren Erbstreit und will von dem Erlös ein Museum in Munchs Heimatort Hvitsten bauen.
Olsen ist deshalb auch eigens nach New York gejettet. Weitgehend unerkannt, verfolgt er die Auktion am Rande, in einem zerknitterten, schlecht sitzenden Anzug mit breiten Streifen und einer blauen Krawatte mit hellen Klecksen in Quallenform. Sein Haar ist wild zerzaust.
Unter Applaus fällt die 100-Millionen-Schranke
Eine Dreiviertelstunde muss er sich gedulden - schließlich versteigert Sotheby's nicht nur den "Schrei", sondern an diesem Abend insgesamt 76 Werke impressionistischer und moderner Kunst, von Pablo Picasso bis Salvador Dalí. Als Meyer das Los Nr. 20 aufruft, balgen sich anfangs sieben Bieter. "46! 47! 48!", ruft Meyer, weist mit ausgestrecktem Arm mal nach rechts, mal nach links, mal zur Mitte.
Bald sind aber nur noch fünf Interessenten übrig, einer im Saal, die anderen am Telefon. Als die 50-Millionen-Dollar-Marke fällt, sind es nur noch drei - und nach 80 Millionen Dollar nur noch zwei. Es wird mucksmäuschenstill.
Die Gebote pendeln hin und her, immer langsamer, immer zaghafter. Meyer zieht alle Register, um das meiste herauszuholen. Er lockt: "Versuchen Sie doch noch einen!" 98 Millionen Dollar... 99 Millionen Dollar. "Ich habe alle Zeit der Welt", droht Meyer.
Unter Applaus fällt die 100-Millionen-Dollar-Schranke. Bei 105 Millionen Dollar sieht es so aus, als gehe den beiden Bietern die Puste aus. Doch dann: 106 Millionen Dollar! "Kann ich sagen, dass ich dich liebe?" 107 Millionen Dollar! Meyer hebt den Hammer. "Sonst noch jemand?" Stille. "Also verkaufe ich es für die historische Summe von 107 Millionen Dollar."
Klack, der Hammer fällt, und das Saalpublikum atmet in kollektivem Jubel aus. Jemand ruft: "Bravo!"
Mit Gebühren addiert sich der Preis auf exakt 119.922.500 Dollar. Fast 20 Millionen Dollar mehr, als Sotheby's veranschlagt hat - und die höchste Summe, die je für ein versteigertes Kunstwerk erzielt wurde. Sicher, im privaten Handel hat es größere Deals gegeben, doch die bleiben meist unter Verschluss.
Der Rest des Abends verläuft vergleichsweise durchwachsen. Es gibt zwar noch mehr Knüller: "Femme assise dans un fauteuil" von Picasso (29,2 Millionen Dollar), "Tête humaine" von Joan Miró (14,9 Millionen Dollar), eine Bronze von Constantine Brancusi (12,7 Millionen Dollar). Doch fünf weitere Bilder Munchs bleiben meist unter den Schätzwerten.
Egal: Sotheby's hat endlich seinen Weltrekord - und einen Triumph über den ewigen Rivalen Christie's, dessen erste Frühjahrsauktion am Vortag relativ enttäuschend verlief. "Ich bin seit etwa drei Jahrzehnten hier", sagt Sotheby's-Vizepräsident David Norman. "Dies ist der aufregendste Moment." Insgesamt erzielt Sotheby's an diesem Abend 330,6 Millionen Dollar - fast so viel wie der gesamte letzte Jahresumsatz und das zweitstärkste Auktionsergebnis in seiner ganzen Geschichte.
"Es ist jeden Penny wert, den der Sammler dafür bezahlt hat", sagt Meyer über den "Schrei", der nach der Auktion noch einmal auf der Drehbühne herausgebracht wird. "Wer immer es gekauft hat, hat es gut gekauft." Natürlich weiß er, wer es ist, doch er verrät es nicht, Diskretion Ehrensache. Auch Insider können nur mutmaßen: Sotheby's-Spezialist Charlie Moffett, der den siegreichen Bieter am Telefon hatte, vertritt in der Regel US-Kunden.
Das Schlusswort hat Petter Olsen. Er kramt einen Zettel hervor und nutzt die Gelegenheit, ein Traktat über die Gefahren der Klimakrise vorzutragen. "Für mich zeigt 'Der Schrei' den entsetzlichen Moment, da der Mensch sich seiner Wirkung auf die Natur bewusst wird", sagt er in stockendem Englisch. Das wollen die Reporter aber nicht hören. Was er denn von dem Auktionsergebnis halte? "Ich bin erfreut."
Ach ja: Nicht nur die "ein Prozent" sind da - sondern auch die "99 Prozent". Unten vor der Tür protestierten Dutzende Gewerkschafter gegen das, was sie als Ausbeutung von Arbeitern durch Sotheby's bezeichnen. Sie haben eine aufblasbare Ratte auf den Gehweg gestellt und verteilen erboste Flugblätter. "Sotheby's", steht da: "Schlecht für die Kunst."