S.P.O.N. - Der Kritiker Bürger im absoluten Staat
Edward Snowden ist der Modellbürger des 21. Jahrhunderts, weil er für sich und für seine Zeit eine Moral definiert hat, die sich gegen die Interessen des Staates oder gleich gegen die Interessen eines staatlich-industriellen Überwachungskomplexes stellt.
Was ist Freiheit? Was ist Verantwortung? Was ist Selbstbestimmung? Was ist ein Staat, der sich über den Willen und das Wesen des Einzelnen erhebt? Ein Staat, der den Alltag unter Verdacht stellt? Ein Staat, der wie ein permanenter Gerichtsprozess funktioniert, bei dem der Bürger, der nichts von seiner Anklage weiß, ständig seine Unschuld beweisen soll?
Was also ist ein Staat, der sich absolut setzt? Und was tut man gegen so einen Staat?
Wenn man die Fragen so grundsätzlich formuliert, kommt man zu einem anderen Ergebnis, als dass Snowden, je nach Sichtweise, ein Held ist oder ein Verräter - dann findet man eine Begründung für seine Handlungen, die weit zurückreicht zum Ursprung dessen, was ein Bürger ist.
Snowdens Leaks wären dann nicht nur der Akt eines Whistleblowers, der zeigen will, dass an einer Stelle der Gesellschaft etwas schiefläuft - sein Tun wäre eine Widerstandsgeste angesichts einer viel umfassenderen Fehlentwicklung: Es wäre Notwehr angesichts einer "Abwärtsspirale demokratischer Legitimität".
Grundbedingungen der digitalen Demokratie
So hat es der amerikanische Politikwissenschaftler William E. Scheuerman gerade in der Zeitschrift "Mittelweg 36" formuliert - er sieht Snowden in einer Reihe mit Mahatma Gandhi und Martin Luther King, einer Tradition des zivilen Ungehorsams "im Zeitalter der totalen Überwachung": Snowdens Taten müssten dann, als Gewissensentscheidung, politisch und auch juristisch ganz anders beurteilt werden.
Was also tut man, wenn die Demokratie, wie wir sie kennen, gerade ihr Wesen verändert? Was bedeutet Demokratie überhaupt unter den Bedingungen des digitalen Kapitalismus? Wie funktioniert die digitale Demokratie, bei der die Grundrechte, so scheint es, noch einmal neu erstritten werden müssen?
In Amerika versucht die Obama-Administration gerade, die demokratischen Grundbedingungen neu zu definieren: Kein Präsident zuvor ist so hart und umfassend gegen Whistleblower vorgegangen wie Obama, kein Präsident hat damit im medialen Bereich so sehr der Zivilgesellschaft geschadet wie Obama, kein Präsident hat zugleich den Journalismus so direkt attackiert, gerade erst im Prozess gegen James Risen von der "New York Times", der unter Androhung einer Gefängnisstrafe gezwungen werden soll, seine geheime Quelle offenzulegen - womit eine Grundlage der freien Presse angegriffen wird.
In Deutschland gibt es nicht mal Gesetze, die den Umgang mit Whistleblowern regeln würden, es gibt keine Geschichte und Kultur dieser positiven Art des Verrats, es gibt kein Wort dafür, keine Sprache, kein Ethos der Geheimnisaufdeckung und deshalb auch keine Realität - stattdessen gibt es einen NSA-Verhinderungsausschuss und einen Generalbundesanwalt, der lieber wegen Merkels Handy ermittelt als wegen millionenfacher Überwachung.
"Edward Snowden, Amerikaner"
Und in England hat gerade der erste Geheimprozess seit, ja, Jahrhunderten begonnen, "eine direkte Attacke auf die Magna Carta von 1215" nennt es Owen Jones im "Guardian": Die Angeklagten in diesem "Terrorismusprozess" hießen AB und CD, das war alles, was die Journalisten schreiben durften - "aber Transparenz ist nicht optional", so das Fazit, "sondern die Bedingung für Gerechtigkeit und den Schutz des Rechts".
Der Staat, auch daran erinnert einen der Snowden-Day, der 5. Juni, der Jahrestag der ersten Leaks, der Staat wird es immer wieder versuchen, er wird sich immer in diese Richtung entwickeln, da muss man nicht naiv sein und auch nicht zynisch - er tut, was er kann, weil er ein System ist, das sich selbst erhält und legitimiert.
Das ist nicht neu: Die Bürger also werden immer wieder gegen den Staat und seine Kontrolle auftreten, das ist ihr Daseinsgrund - einen "Patrioten", so nennt sich Snowden selbst, seine E-Mail an die Unterstützer der ACLU hat er mit "Edward Snowden, Amerikaner" unterzeichnet.
Neu ist etwas anderes: Ein Feld der Freiheit, etwas "Schönes", wie Snowden schreibt, das Internet verändert sich vor unseren Augen und wird zu einem "Werkzeug der Unterdrückung", wie er es formuliert - letztlich ist unter den technologischen Bedingungen unserer Zeit etwas bedroht, was sich jenseits aller politischer Interessen formulieren lässt, in Snowdens Worten, als "menschliche Würde".
Wie also wollen wir leben? Das ist die Frage, die Edward Snowden an uns stellt, am 5. Juni und auch an allen anderen Tagen des Jahres.