Farbfotografie vor 1914 Und plötzlich leuchtete die Welt

Das berühmte Moulin Rouge in Paris erstrahlt in sündigem Rot, das Taj Mahal erhebt sich majestätisch vor dem blauen Himmel: Eine Schau in Berlin zeigt die Welt, wie sie kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs aussah. Ein Fotoschatz in Farbe.

Ein bisschen sieht es aus wie ein groteskes Faschingskostüm, als wären die pfannkuchengroßen Kettenglieder nur aus Styropor. Doch die wuchtige, schätzungsweise zwei Meter lange Kette um den Hals des Mannes ist echt. Sie fesselt einen Verurteilten im mongolischen Ulan-Bator. Und obwohl das Foto, auf dem die Szene festgehalten ist, schon mehr als ein Jahrhundert alt ist, leidet der Betrachter auch 2014 noch mit dem Häftling. Was auch daran liegen mag, dass es sich bei dem Bild um eine frühe Farbaufnahme handelt.

Das Foto stammt aus dem Fundus des französischen Bankiers Albert Kahn (1860-1940), der kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs Fotografen in alle Welt entsandte. Begeistert vom neuen Autochromverfahren der Brüder Auguste und Louis Lumière wollte der technikbegeisterte Humanist mit farbigen Bildern aus Europa, Asien und aus Afrika nicht weniger als die ganze Welt dokumentieren lassen. Er begab sich mit seinem Fotografen Alfred Dutertre 1908 auch selbst auf Weltreise; andere Kahn-Gesandte machten Bilder etwa in Südostasien oder entlang der Seidenstraße zwischen Istanbul und Peking. Der Franzose vergab außerdem Reisestipendien und forderte auch seine Günstlinge zum Fotografieren auf.

Immerhin gut 72.000 Farbfotos und mehrere Stunden Film aus der Zeit zwischen 1909 und 1930 haben sich in Kahns "Archives de la planète" erhalten. Eine Auswahl der Aufnahmen, die vor August 1914 entstanden, zeigt jetzt der Berliner Martin-Gropius-Bau: in der Ausstellung "Die Welt um 1914 - Farbfotografie vor dem Großen Krieg" , die bereits im vergangenen Jahr im LVR-Landesmuseum in Bonn zu sehen war .

160 Szenen, Menschen, Monumente

Die Aufnahmen sollen Kahns Friedensmission widerspiegeln, wie die Kuratoren erklären: Während die europäischen Großmächte zum großen Krieg rüsteten, wollte der französische Banker mit Fotos und Filmen die Fremde in die Nähe holen - und so Ressentiments abbauen. Kahn war ein Idealist: Wer Bauten, Landschaften und Lebensweisen anderer Völker kenne, so hoffte er, der begegne ihnen friedlich, nicht auf dem Schlachtfeld.

Und so zogen Kahns Fotografen von 1909 an hinaus in die Welt, bis zu vier von ihnen sollten nun gleichzeitig unterwegs sein, 21 Jahre lang. Abertausende Szenerien, Menschen und Monumente lichteten sie auf ihren Reisen ab, etwa 200 Fotografien sind nun in Berlin zu sehen. Ergänzt werden die besten Stücke mit Bildern aus Kahns Archiv von zeitgenössischen Aufnahmen der Farbfoto-Pioniere Adolf Miethe (1862-1927) und Sergei Michailowitsch Prokudin-Gorski (1863-1944).

Prokudin-Gorskis Werk steht im Mittelpunkt einer weiteren aktuellen Schau: In der Londoner Photographers' Gallery dokumentiert die Ausstellung "Primrose"  die Avantgarderolle des Russen. Gezeigt werden dort bis zum 19. Oktober nicht nur Farbaufnahmen von Berühmtheiten wie Dichterfürst Leo Tolstoi, sondern auch Fotos von Kindern, Landschaften und Familien in den letzten Jahren des russischen Zarenreiches, das 1917 an der Oktoberrevolution zerbrach.

Prokudin-Gorski war 1908 zum Zaren nach St. Petersburg gereist, um Nikolaus II. persönlich von den Vorzügen der Farbfotografie zu überzeugen. Der Monarch war so begeistert, dass er Prokudin-Gorski beauftragte, das russische Reich in 10.000 solcher Bilder gewissermaßen fotografisch zu kartografieren. Der Projektor dieser Vorführung am Zarenhof ist nun auch in Berlin zu sehen.

Inspiriert hatte den Russen vor allem der deutsche Farbfotograf Miethe, Urheber des Dreifarbendrucks. Miethe hatte den Grundstein für den ersten Farbfotoband in Deutschland gelegt, das legendäre Stollwerck-Album.

Während also die Fotografie um das Jahr 1914 große Fortschritte machte, scheiterte bekanntlich die eigentliche Vision Albert Kahns. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges musste sich seine Friedensutopie dem Expansionswillen der europäischen Mächte geschlagen geben - im Ersten Weltkrieg ging mit dem brüchigen Frieden auch ein Teil jener Welt unter, die Kahns Fotografen auf Farbfotos gebannt hatten.


"Die Welt um 1914. Farbfotografie vor dem Großen Krieg" - Berliner Festspiele, Martin-Gropius-Bau, 1. August bis 2. November 2014; "Primrose. Early Colour Photography in Russia" - The Photographers' Gallery London, 1. August - 19. Oktober 2014.

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