"Erwachsen auf Probe" Platte Debatte

Werbung durch Skandalisierung? Für RTL ein Kinderspiel. Die umstrittene Dokushow "Erwachsen auf Probe" stand schon vor der Ausstrahlung unter dem Verdacht der Kindesmisshandlung. Beim Anschauen allerdings stellt sich heraus: Nur einer wird gefoltert - der Zuschauer.
Von Peer Schader

Wenn Chiara, Alicia, Theresa, Zoé-Marie und Lasse älter sind, wird ihnen irgendwer erklären müssen, wie sie als Kleinkinder das Land in die Krise gestürzt haben - damals, im Jahr 2009, als nebenbei der erste schwarze US-Präsident vereidigt wurde, General Motors Insolvenz anmeldete und eine Air-France-Maschine mit mehr als 200 Passagieren über dem Atlantik abstürzte.



Das wird für die Eltern kein einfaches Gespräch. Wie bitteschön soll man das auch formulieren: Weißt du, mein Schatz, du warst übrigens der Grund, dass die Menschenwürde im Fernsehen abgeschafft wurde, weil Mama und Papa dich als Kleinkind für eine Dokusoap an RTL ausgeliehen haben und Deutschland deswegen für ein paar Wochen komplett durchdrehte?

Gut drei Wochen ist es jetzt alt, das Geschrei um die Sendung "Erwachsen auf Probe", in der Teenagerpärchen ausprobieren sollen, wie anstrengend Nachwuchsbetreuung sein kann und deshalb von fremden Eltern Kleinkinder anvertraut bekommen, um sie zu füttern, zu wickeln und zu bespaßen.

Rasseln mit Begriffen

Pünktlich zur geplanten Ausstrahlung am Mittwochabend haben die Proteste gegen die Sendung ihren Höhepunkt erreicht: 60 Verbände aus der Kinder- und Jugendhilfe forderten diese Woche das Aus; das deutsche Familiennetzwerk hat beim Kölner Verwaltungsgericht einen Erlass auf einstweilige Anordnung beantragt, um die Ausstrahlung wegen "gravierender Menschenwürdeverletzungen" im letzten Moment zu verhindern - allerdings ohne Erfolg. Wie das Gericht am Mittwoch bekanntgab, wurde die Klage abgewiesen. Das Jugendamt sei höchstens noch während der Dreharbeiten zuständig gewesen, hieß es in der Begründung. Für den Jugendschutz im privaten Rundfunk seien jedoch ausschließlich die Landesmedienanstalten verantwortlich.

Gravierende Menschenwürdeverletzungen? Das klingt nach Folter in Abu Ghuraib und Aufstandsniederschlagungen in Tibet. Dass sich Verbände einer solchen Rhetorik bedienen, um gegen eine Dokusoap zu wettern, wäre vielleicht auch mal eine Debatte wert. Vor allem, wenn man "Erwachsen auf Probe" dann wirklich gesehen hat.

In der ersten Folge, die am Mittwochabend gezeigt werden soll, werden die Teenager zunächst vorgestellt, erst in der dritten Folge (die RTL inzwischen vorab auf DVD an Journalisten verschickt hat) müssen sich die Pärchen ganztägig um Kleinkinder kümmern.

Kein Kinderspiel

Dann stellen sie fest: Das ist echt harte Arbeit, aber ganz sicher keine Folter - außer für die Teenies, die schon bei den einfachsten Aufgaben so überfordert wirken, dass man ihnen als Zuschauer am liebsten sofort zu Hilfe eilen würde.

Da sitzt ein staunendes Kleinkind im Kindersitz und schaut dem Leihpapa zu, wie der zu doof ist, den Babybrei aus dem Gläschen zu kriegen, zumal er im Leben noch nichts von der Spezialtechnik "Im Wasserbad erwärmen" gehört hat. Und während sich zwischen einem Pärchen fast die Trennung anbahnt, weil es sich beim Einkaufen in die Haare kriegt, grabscht die Leihtochter in aller Seelenruhe im Regal mit den Gummibärchen herum, die der Supermarkt freundlicherweise direkt in Kindergriffhöhe drapiert hat.

Anders als von RTL per Pressemitteilung zunächst angedeutet, müssen die Kinder dabei nicht vollständig auf ihre Eltern verzichten: Am Bildschirm im Haus nebenan können die Erzeuger beobachten, wie die Teenager mit ihrem Nachwuchs zurechtkommen - und greifen ein, wenn es kein richtiges Frühstück gab oder das Töchterchen mit der Schlafhose auf den Spielplatz geschoben werden soll.

Tatsächlich gibt es eine brenzlige Situation, in der die Eltern ihr Kind "aus dem Projekt abziehen", wie es der Off-Sprecher formuliert, weil der 17-jährige Elvir die 14-monatige Zoé-Marie unbeaufsichtigt auf dem Wickeltisch zappeln ließ und sich deshalb die Notfall-"Nanny" einschalten musste, die den Teenagern als Aufsicht zur Seite gestellt wurde.

Natürlich kann man fragen: Warum muten Eltern ihren Kindern so was überhaupt zu? Es hilft nur nichts, deswegen in wildes Geschrei auszubrechen, wie das die vermeintlichen Kinderschützer tun. Der Sender greift die Debatte um den eigenen Content gerne noch mal auf - am selben Abend in "Stern TV".

Platte Debatte

Mag sein, dass es unter den vielen Kritikern vernünftige Stimmen gibt, mit denen sich eine ernsthafte Diskussion führen ließe - nur gehen die leider in all den Weltuntergangsbeschwörungen unter. Dass derzeit so undifferenziert und populistisch gestritten wird, macht eine ehrliche Debatte nicht nur unmöglich, sie ist offenbar auch gar nicht erwünscht.

Nicht von den entsetzten Verbänden, bei denen sich in weniger schlagzeilenträchtigen Fällen sonst kaum einer um das schert, was tagtäglich Schlimmeres im Fernsehen verbrochen wird, und genauso wenig von RTL, wo man sich auf das Argument versteift hat, mit der Sendung ein pädagogisches Ziel zu verfolgen, indem Teenagern erklärt werde, welche Verantwortung das Elternsein mit sich bringe. (Deshalb talkt Oliver Geissen am frühen Nachmittag sicher auch hochseriös zum Thema "Gebärmaschine - Ich bin 21 und zum 9. Mal schwanger!")

Ja, so ist das nun mal: Kinder schreien, wenn sie die Windeln voll haben oder beschäftigt werden wollen. Aber für die meisten Zuschauer dürfte das kein sonderlich großer Erkenntnisgewinn sein.

Und dass das deutsche Familiennetzwerk ernsthaft befürchtet, durch die Darstellungen in "Erwachsen auf Probe" könnten Teenager "ermuntert und geradezu aufgefordert werden, die Schwangerschaft abzubrechen oder ihr Kind abzutreiben", ist einfach absurd. Weil man ihnen dann auch verbieten müsste, an Spielplätzen vorbeizugehen oder aus Versehen auf der Straße in Kontakt mit Kleinkindern zu kommen, die gerade mal nicht so gut gelaunt sind.

Blödsinn im "Desperate Housewives"-Look

Wie schade, dass bei all der Aufregung bisher gar keinen interessiert hat, ob "Erwachsen auf Probe" womöglich gutes Fernsehen ist. Ist es nämlich nicht. Die von RTL vorab veröffentlichte dritte Folge ist konfus geschnitten und strahlt eine Künstlichkeit aus, die im Experiment zwar angelegt ist, aber dadurch verstärkt wird, dass die Teenagerpärchen in sterile Reihenhäuser ziehen mussten, die in einer Vorortsiedlung stehen, in der auch "Desperate Housewives" gedreht werden könnte.

Was genau der Job von "Expertin" Katja Kessler ist, erschließt sich dem Zuschauer überhaupt nicht. Und das größte Problem der Protagonisten ist nicht, dass sie nicht auf Kinder aufpassen können - sondern dass den meisten generell eine ordentliche Portion Sozialkompetenz fehlt.

Vor dem Fernseher hat man das Gefühl, dass "Erwachsen auf Probe" mit dem echten Leben ungefähr so viel zu tun hat wie das RTL-Nachmittagsprogramm: gar nichts. Für eine Dokusoap ist das ziemlich miserabel. RTL hätte sich seine Fernsehpädagogik ganz einfach sparen können. Und wir uns die ganze verlogene Diskussion.


"Erwachsen a uf Probe": Mittwoch, 20.15 Uhr, RTL

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten