

Am Anfang ist da der Fußmarsch, Bilder einer Reise zu jenen, die ihr Leben in der Wildnis leben, zu den Eremiten in den Weiten Russlands. Immer tiefer ziehen diese Fotografien die Betrachter hinein in den Wald und in die Berge, irgendwann wähnt man sich umgeben von rauer Natur; ein Trampelpfad, ein Bach rauscht, das Tiefdunkelgrün dichten Tannenbewuchses beherrscht alles. Dann, plötzlich, steht da ein Mann unbestimmten Alters, sein Gesicht wettergegerbt, wie gemeißelt die tiefen Furchen. Der Einsiedler blickt reserviert.
"Escape" ist ein bemerkenswerter Fotoband, der junge russische Fotograf Danila Tkachenko hat sich Zeit mit seinen Aufnahmen genommen, viel Zeit. "Escape" bedeutet Flucht - aber auch Ausstieg und Entrinnen. Und haargenau auf diesem schmalen Grat wandeln seine Aussteiger, die er in kurzen Zitaten samt Lebensgeschichte und Weltanschauung vorstellt. Und statt einer Einleitung führen folgende Worte des russischen Filmemachers und Autors Andrei Tarkowsky ins Buch: "Der Mensch braucht die Gesellschaft nicht, die Gesellschaft braucht den Menschen. Gesellschaft ist eine Erfindung, die Schutz bietet und das Überleben sichert. Aber anders als das Herdentier muss der Mensch alleine leben, draußen in der Natur - im Kontakt mit Tieren und Pflanzen."
Tatsächlich suchen die meisten Erdbewohner ja dann doch Gesellschaft - wir arrangieren uns mit gesellschaftlichen Anforderungen, mit Zwängen, mit Routinen. Wir arbeiten für Geld, kaufen, planen Karrieren, kaufen noch mehr, haben Familien, Freunde, Nachbarn. Kommunizieren gerne, manche von uns gar ununterbrochen.
In eine völlig andere Realität führt dagegen die radikale Abkehr von der Zivilisation, der Ausstieg, das autonome, auf sich selbst und die eigenen Kenntnisse und Kompetenzen zurückgeworfene Dasein. Die Eremiten, die Tkachenko in der Wildnis aufspürte, haben sehr unterschiedliche Motive für ihren radikalen Entschluss.
Scheitern und existenzielle Freiheit
Das Leben der Waldbewohner sieht in materieller Hinsicht so aus: Selbstgebaute Holzhütten und Behausungen aus Lehm oder Stroh sorgen für Obdach. Andere haben Felshöhlen bezogen. Wenige Habseligkeiten sind auf den Fotos zu sehen, oft Gebrauchsgegenstände: vom offenen Feuer rußgeschwärzte Kochtöpfe, abgestoßene Emaille-Trinkbecher, eine Karre für den Transport. An einer Hütte lehnen handgemachte Holzskier, ein Gewehr ist auf einer improvisierten Sitzbank abgelegt, der abgezogene Pelz eines Tieres liegt auf der Erde.
Idyllische, fast romantisierende Aufnahmen, die Einssein mit der Natur ausdrücken, stehen in Tkachenkos Geschichte über Freiheit und Autonomie neben solchen, die von beinharten Lebensbedingungen erzählen. Ein nackter Mann, der in einem Teich baden will - das Bild strahlt vollkommene Harmonie aus, Leben im Einklang mit der Natur. Ein anderer ruht, beinahe anrührend entspannt, auf einem umgefallenem Baumstamm. Vom nackten Überleben dagegen zeugen die Hände eines Einsiedlers, dessen Finger verstümmelt sind. Er musste sie selbst amputieren, ein harter Winter hat seine Finger erfrieren lassen. Die wilde Natur ist nicht sanft, nicht lieblich. Manche Eremiten erfahren in der Wildnis Freiheit und Spiritualität, andere ein Nicht-dazu-gehören-können, ein existenzielles Scheitern - manche beides.
Überleben in der Wildnis bedeute Leben im tiefsten Sinne, ließ ein Eremit Tkachenko wissen: "Hier fühle ich mich viel besser". Im Wald gebe es keine bedrückenden, absurden gesellschaftlichen Regeln, die den Menschen eliminieren, ihn seiner Seele berauben würden. Ein anderer drückt sein Lebensgefühl so aus: "Mein Glück, meine Freiheit, meine Würde - alles ist hier." Wieder ein anderer erzählte, er lebe allein in der Wildnis, weil er einen Menschen ermordet, seine Strafe ausgesessen habe, sich aber den Mord nicht vergeben könne.
Passend zum Dasein der Eremiten bleibt "Escape" als Buch wortkarg. Der Leser erfährt nichts über die Motivation des Fotografen, nichts über seine Erfahrungen, seine Gedanken unterwegs. Danila Tkachenko, Jahrgang 1989, der für "Escape" einen World Press Photo Award erhielt, gibt seine Frage nach der inneren Freiheit in der modernen Gesellschaft, wie verfügbar sie ist und wie machbar, nur mit Zitaten der Aussteiger weiter - und mit seinen eindrucksvollen Bildern.
Die gleichnamige Ausstellung ist ab 17. Oktober im Rahmen des "6. Europäischen Monats der Fotografie" in Berlin zu sehen bei 25books.
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Ein Baum als Bett: Der russische Fotograf Danila Tkachenko hat Eremiten in den Weiten Russlands fotografiert.
Kleiner Fisch: "Escape" heißt der Fotoband von Tkachenko. Flucht - aber auch Ausstieg und Entrinnen.
Verstecktes Idyll: Die Einsiedler suchen eine völlig andere Realität in der Natur.
In der Höhle eine Heimat: Einige Männer, die Tkachenko fotografierte, leben so.
Die Bäume als Nachbarn: Die Männer leben sind in der Wildnis auf sich allein gestellt.
Tja, auch kein Friseur in der Nähe: Die Zivilisation ist weit weg.
Kunst im Grünen: Die Einsiedler erschaffen sich ihre eigene Welt.
Die Eremiten, die Danila Tkachenko in der Wildnis aufspürte, haben sehr unterschiedliche Motive für ihren radikalen Entschluss - Weltflucht, Sinnsuche, Naturliebe.
Kreative Architektur: Viele Männer haben sich ihre Behausungen einfach selbst zusammengebaut.
Fernab von Metropolen: Selbstgebaute Holzhütten und Behausungen aus Lehm oder Stroh sorgen für ein Obdach in der Wildnis.
Die Hände eines Einsiedlers: Er hat die Finger selbst amputiert. In einem der Winter waren sie ihm erfroren.
"Der Mensch braucht die Gesellschaft nicht, die Gesellschaft braucht den Menschen. Gesellschaft ist eine Erfindung, die Schutz bietet und das Überleben sichert. Aber anders als das Herdentier muss der Mensch alleine leben, draußen in der Natur - im Kontakt mit Tieren und Pflanzen", heißt es am Beginn des Fotobuches.
Anderer Blick auf die Welt: Manche Eremiten erfahren in der Wildnis eine immense Freiheit und Spiritualität, andere ein Nicht-dazu-gehören-Können, ein existenzielles Scheitern.
Überleben in der Wildnis bedeute Leben im tiefsten Sinne, ließ ein Eremit Tkachenko wissen.
Abkehr von der Welt: "Hier fühle ich mich viel besser", sagte ein Eremit. Im Wald sei er nicht gezwungen, an der ihn bedrückenden und absurden Gesellschaft teilzunehmen. Für alles gebe es Regeln, der Mensch selbst sei eliminiert, sei seiner Seele beraubt.
Überlebenshilfe: Die wilde Natur ist nicht sanft, nicht lieblich.
Hartes Leben: Idyllische, beinahe romantische Aufnahmen, die das Einssein mit der Natur ausdrücken, stehen in Tkachenkos Geschichte über Freiheit und Autonomie neben solchen, die von harten Lebensbedingungen erzählen.
Wärme unter einem Dach aus Stroh: Eremiten finden in Häusern wie diesen ihren Frieden.
Innere Einkehr - und raus aus den Zwängen der Gesellschaft.