
S.P.O.N. - Der Kritiker Eine Hülle ohne Kern

Es treten an: der sozialdemokratische Flatschen Martin Schulz gegen Jean-Claude Juncker, den ewigen Europa-Feudel der Konservativen - kein Wunder, dass da keine rechte Stimmung aufkommen will.
Vor allem wenn man weiß, dass diese beiden "Spitzenkandidaten" nach der Europawahl immer noch auf die Gunst des Europäischen Rates angewiesen sind, bestehend aus der Phalanx der 28 Staats- und Regierungschefs der EU - die zwar gewählt sind, aber nicht unbedingt dafür, dass sie untereinander den Kommissionspräsidenten ausbaldowern.
Wahre Demokratie sieht anders aus, und nicht überall, wo Wahlen drauf steht, sind auch echte demokratische Wahlen drin - aber der Druck ist eben so groß, die Angst ist wieder da, die Rechtspopulisten drohen, deshalb gilt: Keine Zweifel, keine Einwände, vorwärts, mitmachen, wählen gehen, sonst gibt's Klassenkeile.
Der ultimative Wahnsinn
Da ist es dann egal, dass der französische Historiker Emmanuel Todd die Deutschen gerade als "demokratisches Herrenvolk" bezeichnet hat, das "unter Mitwirkung Frankreichs die Demokratie in Südeuropa" zerstört.
Da ist es egal, dass die "Financial Times" gerade in einer dreiteiligen Serie beschrieben hat, wie der "Euro gerettet wurde" - und dabei wesentliche Teile der Demokratie in Hinterzimmerdeals zerstört und im vor allem deutschen Egoismus-Diskurs zerrieben wurden.
Da ist es egal, dass der neue Starökonom Thomas Piketty gerade die Idee des Euro als "einer Währung ohne Staat" mit dem knappen Wort "Wahnsinn" beschrieben hat - und der "ultimative Wahnsinn" ist für ihn das Schauspiel jener Minister mit ihren nächtlichen Runden, die 48 Stunden später nicht mehr wissen, was sie glaubten, gerettet oder wenigstens beschlossen zu haben.
Willkür, Panik vor den Populisten und 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit - keine so gute Bilanz, außer vielleicht für Deutschland.
Das Europa, das am Sonntag zur Wahl steht, ist jedenfalls eine Hülle ohne Kern, eine Behauptung ohne Inhalt. Weil es sich auf den Markt reduzieren lässt, weil es als Maschine funktioniert, weil in den Regeln und Zwängen, die sich laokoonhaft um den europäischen Körper legen, die Werte und Ideale verloren gehen, die den Kontinent zu einem Vorbild machen könnten für das 21. Jahrhundert.
Was dieses Europa sein könnte, das zeigt im Positiven eine Initiative wie die für eine Europäische Akademie der Künste , die sich mit Selbstbewusstsein auf die europäische Aufklärung, auf Vielfalt und Menschenrechte bezieht.
Was Europa derzeit ist, zeigt im Negativen ein Fall aus Deutschland, der symptomatisch ist für den Scherbenhaufen der Moral, der europäische Realität ist.
Verheddert im Schengen-Limbo
Es geht um zwei syrische Flüchtlinge in Berlin, zwei syrische Ärzte aus Daraa, wo der Aufstand gegen das Assad-Regime 2011 begann, Anas al-Aloah, 28, und Mahran Mostafa, 27: Zwei Posterboys der gegenwärtigen Einwanderungsdiskussion eigentlich, gut ausgebildet, jung, ambitioniert, die nach Deutschland wollten, weil hier Ärzte gebraucht werden und ihre medizinische Ausbildung anerkannt wird - denen nun, womöglich schon Anfang der kommenden Woche, die Abschiebung droht nach Frankreich, wo ihre Ausbildung nicht anerkannt wird.
Sie werden also, wie auf ganz andere Art fast alle Flüchtlinge in der EU, im Schengen-Limbo landen: Sie werden sich in Auflagen verheddern, die keinen Sinn machen außer für Bürokraten; sie werden sich anhören müssen, dass wahre Flüchtlinge nicht mit dem Flugzeug reisen, sondern zu Hunderten auf Booten, die manchmal sinken; sie werden, wenn sie Pech haben, nach Syrien zurückgeschickt, wo Ärzte gezielt verfolgt werden als Teil des grausamen Kriegs von Assad gegen sein Volk.
Es ist ein trauriges, tragisches Schauspiel, wie es derzeit überall in Europa stattfindet, das sich mehr und mehr in eine Festung verwandelt und Asyl als Gnadenrecht vergibt: Das Beispiel von Anas al-Aloah und Mahran Mostafa zeigt einerseits die Chance Europas, das eine dynamische, offene Gesellschaft sein könnte - es zeigt aber auch die Gefahr Europas, das sich selbst verliert, wenn es andere abweist.
Was also will Europa sein? Und was für ein Europa steht am Sonntag zur Wahl?
Eines haben Schulz und Juncker jedenfalls jetzt schon gezeigt: Die Kluft zwischen einem guten und einem schlechten Europa ist größer als die zwischen ihren beiden Parteien.