Europawahl-Talk in der ARD Brüssel für Bierselige
Die Zahl klingt erbärmlich: Nur 35 Prozent aller Berechtigten, so legen aktuelle Umfragen nahe, werden sich am 7. Juni an der Wahl zum Europa-Parlament beteiligen. Die Bürokratie in Brüssel und Straßburg ist offensichtlich nicht sehr bürgernah.
Dabei sind die Deutschen durchaus begeisterungsfähig, wenn man Politik mal ein bisschen populärer aufbereitet. Mit Hüpfburg und Bratwurst, mit Otto Waalkes und AC/DC hatte man ja am Wochenende gerade erst vor dem Bundestag der deutschen Verfassung gehuldigt. Und wenn man schon solch ein Schriftstück wie einen WM-Sieg feiert, so mögen sich die ARD-Verantwortlichen gedacht haben, dann müsste sich doch auch eine Einrichtung wie die EU volksnah präsentieren lassen können.
Für den Europa-Plausch "Jetzt reden wir" hatte man deshalb am Montagabend zur besten Sendezeit ins Fürstliche Brauhaus zu Regensburg geladen. Bei einer zünftigen Maß sollten sich die Zuschauer den EU-Frust von der Leber reden und zugleich auf Vorteile der internationalen Gemeinschaft anstoßen.
Man gab sich also grantig bis beschwingt; die Kamera schien sich zum Teil im Walzertakt zu bewegen. Zwischendurch beschlich einen beim Zuschauen schon mal das Gefühl, gleich würden die Volksmusikpräsentatoren Marianne und Michael aus der urigen Kulisse springen.
Stattdessen führten die beliebte ARD-Morgenmagazin-Moderatorin Anne Gesthuysen und ihr BR-Kollege Tilmann Schöberl durch die bayerische Talk-Arena, aber auch sie neckten einander ganz zart und animierten das Publikum im Saal zum Mitmachen und Mitklatschen. So kam die Veranstaltung wie eine Mischung aus dem Grand-Prix der Volksmusik und Bürgerforum daher. Selbst wenn das Publikum fernblieb - lediglich 970.000 Menschen verfolgten nach Senderangaben ab 20.15 Uhr die Live-Sendung - war das vielleicht nicht der schlechteste Ansatz, um Aufmerksamkeit zu schaffen fürs Polit-Stiefkind EU.
Endlich kamen nun nämlich auch mal 90 Minuten lang Volksvertreter vor die Kamera, für die in der Primetime sonst keine Fernsehminuten reserviert sind (mal abgesehen von den Wahlwerbespots, aber wer schaut die schon). Von jeder Partei war jeweils ein Abgesandter vor Ort, der sich um einen Sitz im EU-Parlament bewirbt. Und alle mussten sie sich nun den Beschwerden und Anregungen ihrer potentiellen Wähler und Wählerinnen stellen.
Da ging es dann um die Energiesparlampen-Verordnung und die Auszeichnung von Lebensmitteln, man diskutierte über den europäischen Binnenmarkt und Mindestlöhne, es wurden ein sofortiger Stopp der Gentechnik und ein Reinheitsgebot für Käse gefordert, man kritisierte die Regulierungswut und das Kompetenzgerangel in Brüssel. Der Bürger hatte das Wort, die Politiker mussten sich legitimieren.
Aber was, wenn der Volksvertreter eigentlich gar nicht zu belangen ist für die kritisierte Politik? Über eine Live-Schaltung forderte zum Beispiel ein Zehnjähriger aus einer deutsch-niederländischen Grenzstadt, dass man das Bildungswesen doch über die nationalen Grenzen hinaus organisieren solle, damit er mit seinen holländischen Nachbarn zusammen zur Schule gehen könnte.
So wunderbar sich in dem Knirps gedanklich bereits die europäische Einigung vollzogen hatte - die Schulfrage bleibt doch weiterhin Sache jeden einzelnen Staates. Die Linke-Politikerin Gabi Zimmer zerstörte denn auch gnadenlos die binationalen Bildungshoffnungen des Jungen Erst einmal müssten es die Deutschen schaffen, die Schulsysteme der Bundesländer aufeinander abzustimmen. Weshalb sollte denn zwischen Holland und Deutschland möglich sein, was zwischen Thüringen und Niedersachsen Utopie ist?
So schön also die Idee war, deutsche EU-Politiker Stellung beziehen zu lassen: Wo der Einfluss der EU anfängt und wo er aufhört, blieb recht diffus. Den anpackenden Politiker, der die Belange der Bürger durch alle Instanzen trägt, diesen Liebling Kreuzberg - oder diese gute Tante Regensburg -, suchte man im ARD-Talk jedenfalls vergeblich. Da half es nichts, dass der junge FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff vor den Bauern und Kleinunternehmer im Saal immer wieder wahlwerbeträchtig bekundete, er wolle den Mittelstand schützen.
Doch die EU bleibt nun mal allen populären Parolen zum Trotz ein unübersichtliches Gebilde. Selbst die anwesenden Politiker schienen ja nicht immer ganz den Überblick zu haben. Man nehme nur die Sache mit der "Patientenmobilitätsrichtlinie": Da lag Lambsdorff mit seiner SPD-Konkurrentin Evelyne Gebhardt über Kreuz - war die nun verabschiedet worden? Und was besagt sie eigentlich genau?
Viele Fragen blieben am Montagabend offen, und vielleicht war das ganz gut so. Denn wer sich ernsthaft mit der EU beschäftigt, der muss sich eben auch mit ihren Abstimmungsmängeln beschäftigen. Eine Wahlempfehlung zum Nulltarif wäre nun auch nicht gerade die feine demokratische Art.
Da muss man es schon abenteuerlustig nennen, wie die ARD-Sendung nach all den zermürbenden Zuständigkeitsdebatten am Ende wieder zur Einheizerveranstaltung für die EU-Wahl wurde. Zuvor hatte man über Live-Schaltung die Gesangstruppen zweier abgelegener Grenzstädtchen selbst gedichtete Europa-Hymnen singen lassen und die Fernsehzuschauer per "Ted" (nennt man in der ARD immer noch so!) den Sieger wählen lassen. "Europa sucht das Superlied", nannte das Moderatorin Anne Gesthuysen keck.
Zum Schluss siegte Bocholt-Suderwick an der deutsch-niederländischen Grenze gegen Bayerisch Eisenstein an der deutsch-tschechischen mit dem euphorischen Chorus "Europa ist da!", vorgetragen aus drei Dutzend begeisterter Hausfrauenkehlen.
Europa ist also da. Allen institutionellen Vermittlungsproblemen zum Trotz scheint es in den Herzen der Menschen angekommen zu sein. Um es mit den letzten Worten von Moderator Tilmann Schöberl in dieser Mixtur aus Volksmusiksause und Wählermobilisierungskommando zu sagen: Darauf eine Maß.