Extremsport Luftsprünge in der Banlieue
Es sind die Szenen einer geschmeidigen Flucht. Bilder, die man in jüngster Zeit gelernt hat, mit brennenden Pkw zu assoziieren: Jungmännerbeine in Trainingshosen, Turnschuhe, die über Asphalt rennen, Kapuzenpullover, im Hintergrund aufragende Hochhaustürme. Waghalsig springen die Flüchtenden über Treppengeländer, winden sich durch Absperrgitter, hechten von Dach zu Dach, benutzen Stadtbegrünungs-Blumenkübel als Landeplätze für ihre Riesensätze.

Parkour: Fliegende Franzosen
Die jungen Männer, die da durch Pariser Vorstädte zu gleiten scheinen, sind aber in Wahrheit gar nicht auf der Flucht: Manchmal laufen sie auch ein paar Schritte weit eine Wand hinauf, machen dann einen Salto rückwärts, drehen sich um und rennen in die Richtung zurück, aus der sie gekommen sind. Sie sind Sportler, "Traceurs" nennen sie sich, oder "Free Runners". Sie machen die Vorstädte, die in jüngster Zeit so oft als seelenlose Brutstätten ungezielter Aggression dargestellt worden sind, zum Spielfeld. Es geht darum, von A nach B zu kommen - direkt, möglichst elegant und ohne Rücksicht auf das, was im Weg steht.
Ein bisschen Erol Flynn, ein bisschen Skaten
"Parkour" haben ihre Begründer diese Umwidmung des urbanen Raums genannt, manchmal sprechen sie auch von der "Art de Deplacement" - die Kunst des Ortswechsels. Aus Treppengeländern, Dachkanten, Brüstungen und Balkongeländern werden Hindernisse, Klettergriffe und Abschussrampen für den Sprung ins nächste Blumenbeet. "Parkour" ist ein bisschen wie alte Piratenfilme mit Erol Flynn, ein bisschen wie aktuelle Computerspiele und ein bisschen wie Skaten ohne Board. Und gleichzeitig hervorragend geeignet als Überlebensstrategie im Räuber-und-Gendarme-Spiel mit den echten Gendarmen in der Banlieue.
Obwohl der Franzose David Belle, der als Begründer des urbanen Hindernislaufs gilt, das Ganze ganz anders gemeint hat. Sein Vater, ein ehemaliger Soldat, hatte seinem Sohn in der Kindheit auf dem Land den Spaß am Klettern und Springen nahe gebracht, als quasi-militärische Trainingsmethode. "Parkour" soll von "parcours combatant" kommen - Zirkeltraining für Kämpfer gewissermaßen.
Als Belle mit 15 Jahren ins Städtchen Lisses vor den Toren von Paris zog, dehnte er den Geradeauslauf auf die Hindernisse aus, die die neue Umgebung zu bieten hatte. Gemeinsam mit Sébastien Foucan entwickelte er "Parkour" zu der Perfektion, der junge Großstädter heute vor allem in Frankreich, zunehmend aber auch in anderen Ländern nacheifern.
Inzwischen ist die Subkultur gewaltig, zahllose Webseiten zeigen "Parkour"-Fotos und die meist zu französischem HipHop geschnittenen Videos, in denen spektakuläre oder besonders elegante Aktionen aneinandergereiht sind. Auch das ist wie bei den Skatern oder Snowboardern: "Parkour" ist als Zuschauersport nur bedingt geeignet, erst in medialer Komprimierung können die Kunststückchen bequem konsumiert werden.
Große Pose und kindliche Schlichtheit
Die Videos erinnern in Pose und Inszenierung ebenfalls an die Extremsport-Vorbilder - nur dass hier nicht Menschen über Schneewächten springen und dann 50 Meter weit fliegen, sondern eben zu Fuß von einem Treppenabsatz auf den nächsten hüpfen. Die große Geste und die fast kindliche Schlichtheit der Aktivität haben manchmal etwas geradezu Rührendes.
Gleichzeitig aber ist "Parkour" hip, sehr hip. Luc Besson ("Das fünfte Element") hat einen Film namens "Yamakazi" über eine Gruppe von Traceurs gemacht. Pionier David Belle spielt die Hauptrolle in einem - ebenfalls von Besson mitproduzierten - Actionfilm mit dem Titel "Banlieue 13". Und im neuen Video von Madonna taucht, neben vielen "Crumping"-Tänzern, auch Sebastien Foucan für ein paar Sekunden auf - er hüpft über ein Treppengeländer, läuft eine Wand hinauf und springt von einer Brüstung.
Viel mehr und ungleich Spektakuläreres gibt es etwa auf der von Foucan betriebenen Webseite zu sehen - zum Beispiel die Kunststücke, die die Gruppe "Adrenaline" in Pariser Hochhaussiedlungen aufführt.
Im August starb ein Möchtegern-Traceur
Inzwischen geht der neue, nicht ganz ungefährliche Straßensport - im August fiel in Großbritannien ein Möchtegern-"Traceur" von einem Dach und starb an den Verletzungen - den Weg all seiner Vorgänger: Es gibt strukturelle Verfestigung, Querelen zwischen den Pionieren, Streit über die reine Lehre und Wehklagen über zunehmende Kommerzialisierung.
David Belle, längst Vollzeit-Traceur, hat einen Weltverband namens Pawa gegründet, der auch in Deutschland bereits eine Dependance besitzt. Das Training soll auf eine allgemeingültige Grundlage gestellt werden, es werden Programme für Trainerlizenzen aufgestellt, in Workshops und öffentlichen Aktionen um neue "Traceurs" geworben. Bestimmte, allzu artistische Formen sind nicht erwünscht, weil es schließlich um "effektive Fortbewegung" gehen soll. Da sind artistische Schrauben und Auerbachsaltos zu viel des Guten, findet Belle.
Sandra Hess, Stuntfrau und Vorsitzende des im Werden begriffenen deutschen Pawa-Ablegers, findet Regeln und ordentliches Training wichtig: "Wir sind dazu da, den Leuten beizubringen, wie man das richtig angeht", sagt sie, "damit solche Sachen wie in England nicht passieren."
Foucan dagegen propagiert das Grundprinzip von "Flüssigkeit und Eleganz", er inszeniert sich selbst als Künstler und Showtalent - was mit Auftritten in Werbespots und Dokumentationen belohnt wurde. Es gebe keinen Streit zwischen den beiden, sagt Sandra Hess, aber "jeder geht seinen eigenen Weg."
Ein bisschen schade ist das vielleicht. Aber andererseits ist es genau das, worum es bei "Parkour" geht.