Fergus Falls US-Kleinstadt vom Fall Relotius betroffen

Anderson, Krohn aus Fergus Falls
Foto: privatIm März 2017 veröffentlichte der SPIEGEL die Reportage "In einer kleinen Stadt". Sie spielt in Fergus Falls, einer Kleinstadt im Bundestaat Minnesota, die typisch sei für das ländliche Amerika, das Donald Trump zum US-Präsidenten machte. Geschrieben hat die Geschichte der damalige SPIEGEL-Redakteur Claas Relotius, der sich für die Recherche knapp einen Monat in Fergus Falls aufgehalten haben will.
Eine Woche nach der Veröffentlichung des Artikels lasen ihn Michele Anderson und Jake Krohn, zwei Bewohner von Fergus Falls, so schreiben sie es später in einem Text , den sie online veröffentlicht haben, nachdem der Fall Relotius aufgeflogen war.
Sofort seien ihnen Zweifel am Inhalt der Relotius-Geschichte gekommen, so Anderson und Krohn. Sie dachten erst, dass es sich vielleicht um einen Übersetzungsfehler handeln könnte - sie haben den Artikel mit Google Translate aus dem Deutschen ins Englische umgewandelt. Doch auch, nachdem sie eine professionelle Übersetzung gelesen haben, bleiben die Zweifel. Also beschließen sie eigenen Angaben zufolge, die Behauptungen von Claas Relotius selbst zu überprüfen.
Am Mittwoch, nachdem Der SPIEGEL den Betrugsfall im eigenen Haus enthüllte, veröffentlichen sie ihre Ergebnisse unter der Überschrift "Der SPIEGEL-Journalist hat sich mit der falschen Kleinstadt angelegt" ("Der Spiegel journalist messed with the wrong small town"). Eineinhalb Jahre lang haben die beiden eigenen Angaben zufolge die Relotius-Reportage untersucht. "Rückblickend, ja, wir wünschen uns, dass wir uns früher entschiedener zu Wort gemeldet hätten. Aber hätte uns jemand geglaubt?", schrieb Krohn auf Twitter.
Ihr Fazit:
"Auf 7300 Wörtern hat er (gemeint ist Reporter Relotius, Anm. d. Redaktion) nur die Einwohnerzahl unserer Stadt und die jährliche Durchschnittstemperatur richtig wiedergegeben, und ein paar grundsätzliche Dinge wie die Namen von Geschäften und Personen des öffentlichen Lebens - Dinge, die ein Kind mit einer Google-Suche hätte herausfinden können. Der Rest ist ungehemmte Fiktion (sogar so schlampig, wie die falsche Zahl zu zitieren, dass bei der Präsidentschaftswahl Trump eine Unterstützung von 70,4 Prozent in der Stadt hatte, tatsächlich waren es 62,6 Prozent), was die Frage aufwirft, wieso der SPIEGEL überhaupt in Relotius' dreiwöchige Reise in die USA investierte, ob sie ihr Geld von ihm zurück verlangen sollten, und was für ein institutioneller Zusammenbruch dazu führte, dass das SPIEGEL-Faktenchecker-Team - vorgeblich Weltklasse - hierbei totalen Mist baute."
Relotius habe die ländliche, vergessene Kleinstadt tendenziös dargestellt und hässliche, übertriebene Vorurteile zementiert. In der Reportage seien so viele Lügen enthalten, dass Anderson und Krohn sich in ihrer Anklage auf die "elf absurdesten" beschränken wollten. Der SPIEGEL dokumentiert die Vorwürfe an dieser Stelle, ohne bislang jeden einzelnen überprüft zu haben. (Welche Fakten bislang überprüft sind, lesen Sie ganz am Ende dieses Textes.) Ein SPIEGEL-Reporter ist derzeit unterwegs in die Kleinstadt, um den Hinweisen und Vorwürfen nachzugehen.
Dies sind die laut Anderson und Krohn "absurdesten Lügen":
1. Der schlafende Drache
Relotius behauptete, die Stadt liege in einem dunklen Wald, der so aussehe, als könnten Drachen darin leben. Am Stadteingang stehe ein Schild, auf dem stehe "Willkommen in Fergus Falls, der Heimat von verdammt guten Leuten".
"Fergus Falls liegt in der Steppe", schreiben Anderson und Krohn. Es gebe kaum Bäume. Und auf dem Schild am Stadteingang stehe lediglich "Willkommen in Fergus Falls".
2. Der bewaffnete, jungfräuliche Bürgermeister
In der Relotius-Reportage wird der City Administrator Andrew Bremseth als 27-Jähriger dargestellt, der noch nie eine Freundin gehabt habe, immer eine Beretta Kaliber 9mm bei sich trage und französische Philosophen des 18. Jahrhunderts bevorzuge.
All dies sei unzutreffend, sagte Bremseth laut Anderson und Krohn.
3. Die Stadt, die besessen von "American Sniper" ist
Relotius schreibt, dass im Kino von Fergus Falls der Kriegsfilm "American Sniper" auch zwei Jahre seit dem offiziellen Kinostart noch immer gezeigt werde.
"Diese Anekdote, die Relotius' übertriebene Geschichte einer Einwanderer fürchtenden, waffenbesessenen Kleinstadt tragen sollte, war am einfachsten zu überprüfen und gleichzeitig die seltsamste, zufälligste Lüge, die er fabrizierte", schreiben Anderson und Krohn. Rund einen Monat, vom 16. Januar bis zum 19. Februar 2015, wurde "American Sniper" im Kino von Fergus Falls gezeigt, schrieb ihnen eigenen Angaben zufolge der Betreiber des Kinos per E-Mail.
4. Neil, der Kohlewerksarbeiter, der so nicht heißt
Neil Becker, ein blonder, 57-jähriger Arbeiter in einem Kohlewerk, kommt in dem Artikel vor - mit Foto.
"Wir kennen alle diesen Mann", schreiben Anderson und Krohn. "Das ist der einzig wahre Doug Becker, der für den Postdienst UPS arbeitet und lange das Fergus Falls Fitness Center leitete."
5. Die Vermischung von Israel und Maria
"Auch Maria Rodriguez, eine Mutter und Restaurantinhaberin aus Mexiko, die vor Jahren in die USA kam, sieht Trump als ihren Retter", schrieb Relotius. Sie habe eine Nierenerkrankung, deren Behandlung immer teurer werde, und einen 15-jährigen Sohn namens Israel, der in der Schule gemobbt werde.
Die Erkrankung sei erfunden, schreiben Anderson und Krohn. Auch heiße der Sohn von Maria Rodriguez nicht Israel, sondern Pablo; sie sei zudem nicht die Restaurantbesitzerin, sondern Kellnerin. Relotius habe ein Foto von Pablo Rodriguez aufgenommen, jedoch nicht mit ihm gesprochen.
6. Der Blick vom "Viking Cafe"
Relotius schrieb, dass man vom "Viking Cafe" das Kohlekraftwerk mit seinen sechs Schornsteinen sehen könne.
Das "Viking Cafe" habe kaum Fenster, schreiben Krohn und Anderson, nur ein paar kleine auf der Vorderseite, von denen aus man die Straße sehe. Das Kraftwerk liege rund drei Kilometer entfernt in der anderen Richtung, hinter einem bebauten Hügel und habe zudem nur einen Schornstein, schreiben Anderson und Krohn.
7. Quiz-Lüge
In dem Artikel heißt es, dass im Rathaus von Fergus Falls der City Administrator Andrew Bremseth Kurse anbiete wie "iPad für Anfänger" und Veranstaltungen wie Quiz über TV-Serien wie "Game of Thrones".
Dies sei frei erfunden, schreiben Anderson und Krohn.
8. Sicherheitsmaßnahmen in der High School
Der Eingang der örtlichen High School sei durch drei Panzerglastüren und einen Waffenscanner gesichert, heißt es in der Reportage von Claas Relotius.
Tatsächlich habe die Schule zwei Eingangstüren, nicht drei. Ob sie tatsächlich aus Panzerglas seien, wüssten sie nicht, schreiben Anderson und Krohn.
9. Heimliches Super-Bowl-Schauen in der Brauerei?
Relotius beschreibt, dass City Administrator Bremseth im Restaurant "Union Pizza" den Super Bowl, das Finale der American Football Profiliga, schaute.
Das Finale habe an einem Sonntag stattgefunden - dem Ruhetag des "Union Pizza", schreiben Anderson und Krohn. Als sie den Betreiber der Pizzeria fragten, ob das Restaurant möglicherweise heimlich für ihn am Super Bowl geöffnet hatte, sei dieser überrascht gewesen. Bremseth sagte, er habe das Finale nicht dort geschaut.
10. Der großartige "Western Abend", zu dem niemand eingeladen war
In der Relotius-Reportage wird ein Sommerabend beschrieben, an dem sich alle wie in einem Western verkleidet hätten. Sand und Stroh sei auf die Veranda einer Bar gestreut worden, halbe Rinder rotierten auf dem Grill.
"Wir finden das urkomisch, wenn nicht gar inspirierend für eine zukünftige Veranstaltungsidee", schreiben Anderson und Krohn. Bisher habe es eine solche Party in Fergus Falls nie gegeben.
11. Der High-School-Ausflug nach New York
Relotius behauptet, dass die örtliche High School einen Ausflug nach New York City gemacht habe und dort im Trump Tower gewesen sei, nicht jedoch bei der Freiheitsstatue.
Anderson und Krohn konnten keine Schulklasse finden, die einen Ausflug nach New York gemacht hatte, und auch der Schüler, den er zitierte, war nicht zu finden.
Der SPIEGEL hat in einem ersten Schritt seine Dokumentationsabteilung das Manuskript der Relotius-Geschichte noch einmal in Stichproben prüfen lassen - und musste feststellen, dass bei der Verifikation tatsächlich nicht sauber gearbeitet wurde. (Mehr zu den Sicherheitsmechanismen des Hauses lesen Sie hier.)
Ein paar Detail-Beispiele, die auffielen:
Der SPIEGEL hat Fakten also nicht so sauber überprüft, wie es seine Statuten vorsehen. Zu sehr haben sich Redaktion und Dokumentation auf die vermeintliche Glaubwürdigkeit des Reporters verlassen. Hauseigene Verifikationsrichtlinien, nach denen zum Beispiel Orts - und Milieubeschreibungen in Reportagen nur eingeschränkt überprüft werden, wurden zu großzügig ausgelegt.
Die erste erneute Überprüfung zeigt aber auch: Selbst wenn die Geschichte sauber nach den eigentlich gültigen Standards des Hauses verifiziert worden und alle offensichtlichen Fehler und Ungenauigkeiten ausgeräumt wären - weite Teile des Textes könnten immer noch Fiktion sein. Der SPIEGEL kann sich nur entschuldigen bei den Bewohnern von Fergus Falls: We are sorry.
Die von Relotius verfassten Artikel bleiben bis zu einer weitgehenden Klärung der Vorwürfe unverändert, aber mit einem Hinweis versehen im Archiv, das online zugänglich ist, auch um Nachforschungen zu ermöglichen. Wir bitten um Hinweise an hinweise@spiegel.de.
Anmerkung: In einer früheren Version hieß es, Relotius habe geschrieben, dass in der Bücherei von Fergus Falls Kurse angeboten werden wie "iPad für Anfänger". Tatsächlich hatte Relotius geschrieben, der City Administrator Andrew Bremseth würde diese Veranstaltungen im Rathaus anbieten. Wir haben die Stelle korrigiert. Außerdem hatten wir den Ort im Teaser versehentlich als Dorf bezeichnet - richtig ist: Kleinstadt.