Philosophen-Duo Guattari und Deleuze Netzwerke über alles

Mom-Jeans, Plateauschuhe, Technikutopien: Die Gegenwart arbeitet sich an den Neunzigerjahren ab. Kommt gerade recht: die Doppelbiografie über den Psychoanalytiker Félix Guattari und den Philosophen Gilles Deleuze.
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Foto: privat

Dr. Johannes Thumfart, Fellow an der Forschergruppe Law, Science, Technology & Society der Freien Universität Brüssel, schreibt unter anderem für die "taz" und die "Zeit", hat an der Humboldt Universität Berlin über die Ideengeschichte des Völkerrechts promoviert. Danach Freie Universität Berlin, Universidad Iberoamericana in Mexiko-Stadt und University of Cincinnati in Ohio.

Zur Erinnerung: Die Eltern der Generation X posierten noch mit ungelesenen roten Mao-Bibeln. Bei ihren Sprösslingen lag zwischen Acrylbong und Polenspeed das obligatorische Mervebändchen von Deleuze und Guattari. Gelesen werden musste das ebenfalls nicht so dringend - konnte es in den meisten Fällen wegen seiner immensen Schwurbeligkeit auch gar nicht. Dafür waberten aber im Klub die passenden Flattergeräusche aus dem Sampler.

Marx und Coca-Cola

Mit dem 1993 gegründeten "Mille Plateaux" benannte sich gleich das wichtigste deutsche Label für unhörbare elektronische Experimentalmusik nach dem Gassenhauer der beiden Theoretiker. Auch die damals noch hochrelevante "Spex" mansplainte während der vorschnell als "postfordistisch" titulierten Neunziger Hinz und Kunz mit Deleuze und Guattari. Und irgendwie war alles Teil eines hierarchiefreien Netzwerks: Pop und Hochkultur, Politik und Mode, Architektur und Ameisenhügel, Rave und römischer Katholizismus.

Mit solch totalem Eklektizismus beerbten die Kids von Deleuze, Guattari und Red Bull diejenigen von Marx und Coca-Cola. Als zeitgemäß durchgehen mag das noch immer, wie nicht zuletzt der erst jüngst mit großem Gedöns erfolgte, extrem verspätete Einzug der Thesen von Deleuze und Guattari ins einst teutonisch-rote Kadertheater  am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz belegt.

Zu verdanken ist das beinah beängstigende Beharrungsvermögen Deleuzes und Guattaris einer Fügung von ganz außerordentlicher Ironie. Bereits Mitte der Neunziger waren beide tot. Rezipiert wurden sie zunächst als Teil eines eher esoterischen, noch sehr nach Achtundsechzig miefenden Diskurses über Post-Marxismus und Antipsychiatrie in Italien und Frankreich.

Das damals neue Internet und das Rhizom

Allerdings begannen im frankophonen Teil Kanadas Mitte der Dekade Autoren um den Gesellschaftstheoretiker und Deleuze-und-Guattari-Übersetzer Brian Massumi damit, ausgerechnet das heißeste und neueste Ding mit deren Metapher des Rhizoms zu beschreiben: das World Wide Web, wie man damals sagte. Passte auch tatsächlich ganz gut, zumindest für das noch nicht monopolisierte Internet der damaligen Epoche. Schließlich bezeichnet das Rhizom nach Deleuze und Guattari ein Netzwerk, in dem es keine Hierarchien und festen Positionen gibt und alles mit allem verbunden ist. Und so setzte sich die Rhizom-Metapher für das Internet gewissermaßen als Meme von akademischen Essays zu Büchern, Magazinartikeln und Kneipengesprächen fort.

Bis heute geht das so, auch wenn die Realität längst eine ganz andere ist und sich das Netz unserer Tage eben durch Monopolisierung und Hierarchisierung auszeichnet . Die einflussreichste New Yorker Organisation für digitale Kunst hört auf den Namen Rhizome . Und selbst der Gründer von "BuzzFeed"  - auch er ein Jugendlicher der Neunziger - entwickelte das Konzept seines globalen Clickbait-Imperiums anhand der Theorien von Deleuze und Guattari. Die beiden wurden mit dieser späten Rezeption zu nichts Geringerem als den wichtigsten Philosophen einer bis heute andauernden Epoche, die an den Eckpunkten Postmoderne und Digitalisierung festzumachen ist.

Ironisch ist diese Entwicklung, weil Deleuze und Guattari diese Wirkung nicht intendiert haben konnten, wenn sie auch ein paar Zeilen zum französischen Vorläufer des Internets, dem Minitel, geschrieben haben. Allerdings entnahmen sie, nicht immer auf gekennzeichnete Weise, viele ihrer damals für die Philosophie neuen Ideen der kalifornischen Kybernetik, deren Theoreme wiederum ausgehend von Computertechnologien entwickelt worden waren.

Antipsychiatrie-Szene

Mit dem heute wichtiger gewordenen technophilen Teil der Inspiration und Wirkung Deleuzes und Guattaris setzt sich die nun auf Deutsch, aber vor genau zehn Jahren auf Französisch erschienene Doppelbiografie aus der Feder des Ideengeschichtlers François Dosse nur am Rande auseinander.

Es wird zwar kursorisch auf deren Rezipienten Nick Land  eingegangen - der sich mittlerweile als Rechtsradikaler versuchende Ahnvater der intellektuellen Eintagsmode des Akzelerationismus. Doch hauptsächlich seziert Dosse die merkwürdige Welt der französischen Antipsychiatrie-Szene der Nachkriegszeit und fördert dabei einen bislang wenig beachteten Teil des historischen Kontexts der Deleuze'schen und Guattari'schen Idee des hierarchiefreien Netzwerks ans Tageslicht: die Klinik La Borde  im Loire-Tal und die Rolle, die der wesentlich weniger bekannte Teil des Duos, der Antipsychiater Guattari, in dieser spielte.

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Dosse, François

Gilles Deleuze, Félix Guattari: Biographien

Verlag: Turia + Kant
Seitenzahl: 867
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08.06.2023 15.03 Uhr

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Die noch heute existierende Einrichtung La Borde war eine psychiatrische Klinik neuen Typs, organisiert nach dem von Guattari entwickelten Prinzip der "Transversalität" . Das heißt, es gab keine festen sozialen Rollen. Das behandelnde Personal war den Patienten gleichgestellt. In Gemeinschaftsduschen liefen Therapeuten und Patienten einander morgens über den Weg. Ein durch eine Matrix reguliertes Rotationssystem garantierte, dass jeder möglichst sämtliche Funktionen übernahm, vom Gärtner und Hausmeister bis zum Arzt, Patienten und Krankenpfleger. Natürlich stand auch Promiskuität auf dem Plan, insbesondere in den swingenden Sechzigern. Totale Entwurzelung war Pflicht, der Einzelne nichts. Netzwerke über alles.

Dosses mitunter klassisch psychoanalytisch geprägte Doppelbiografie glänzt vor allem in den Momenten, in dem sie es sich zutraut, die offenkundig problematische Ideologie von La Borde mit der psychischen Konstitution ihres eifrigsten Verfechters Guattari zusammenzubringen. Der frühe Guattari wird als traumatisiert und entfremdet von seiner Familie skizziert. Sein Vater war beispielsweise Mitglied bei der rechtsradikalen Organisation "Croix de Feu", er selbst glühender Trotzkist. Nicht ganz witzlos sind diese klassischen Freud'schen Familienreferenzen, schließlich ist der Widerstand gegen den "Familialismus" und die Reduktion auf das ödipale Dreieck Mutter-Vater-Kind Kern der Deleuze'schen und Guattari'schen Kritik der Psychoanalyse.

Als Erwachsener, argumentiert Dosse, entwickelte Guattari seinerseits einen autoritären Charakter. Die totale Gemeinschaft in La Borde führte er mit hyperaktivem Furor und auch unter Anwendung seiner fortgeschrittenen Judokenntnisse. Als er dann selbst Familienvater wurde, zwang er seinen Sohn dazu, im von außen verschlossenen Zimmer täglich Tagebuch zu schreiben. Nur um ihm in letzter Instanz die Führung der eigenen Familie aufzuerlegen, nachdem Guattari diese für eine offene Beziehung mit einer an Depressionen leidenden Patientin verlassen hatte.

Verbunden in einem idealen Netzwerk

Man muss sich natürlich vor einem linearen Rückschluss von Leben auf Werk hüten, gegen den sich nicht zuletzt Deleuze und Guattari auch in der gewählten Form der Co-Autorenschaft immer verwehrten. Dennoch ist dieser biografische Kontext ihrer Ideen äußerst aufschlussreich. Es war schon immer frappierend, mit welch autoritärem Impetus die beiden ihren liberal klingenden Rhizom-Gedanken vortrugen. Unter anderem heißt es ja in den "Tausend Plateaus" apodiktisch, dass jeder Punkt des Rhizoms als idealem Netzwerk nicht nur mit jedem anderen verbunden sein kann, sondern dass dies so sein muss: "N'importe quel point d'un rhizome peut être connecté avec n'importe quel autre, et doit l'être."

Gilles Deleuze

Gilles Deleuze

Foto: AP/ ARTE

Interessanterweise wird in Dosses Rekonstruktion auch deutlich, dass Deleuze und Guattari die totale Vernetzung, die sie predigten, selbst durchaus nur eingeschränkt praktizierten. Der verbeamtete Philosophieprofessor Deleuze hütete sich sogar davor, in Kontakt zu den von ihm selbst und Guattari glorifizierten Patienten in La Borde zu kommen, da er sich vor Geisteskranken fürchtete. Er, der Mitbegründer der den Begriff der Schizophrenie positiv verwendenden Schizoanalyse, soll Guattari sogar im Privaten gefragt haben: "Wie kannst du diese Schizos aushalten?"

So dekonstruiert Dosse subtil und faktenreich die Ideen Deleuzes und Guattaris, ohne den Respekt vor den beiden Denkern zu verlieren, aber auch ohne ihnen auf den Leim zu gehen. Für diejenigen, die an der längst überfälligen Dekonstruktion und Überwindung ihrer Wirkung interessiert sind, bleibt eine Ahnung: Für gewöhnlich wird es als ein Beweis der Menschlichkeit des Affen herangezogen, dass ihm wie dem Menschen in bestimmten verhaltenswissenschaftlichen Versuchsanordnungen  Gerechtigkeit über Eigeninteresse zu gehen scheint. Selbstverständlich aber kann dies auch als ein Beweis der dem Gleichheitsstreben innewohnenden Animalität gesehen werden.

Wenn die Neunziger durch etwas geprägt waren, dann ist es diese Idee, dass alles mit allem und jeder mit jedem verknüpft sein muss, weil alles und alle gleich - oder eben auf Französisch: égal - sein müssen. Noch immer ist der diese Gleichmacherei bedingende Nihilismus das dringlichste Problem unserer Zeit.

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