Festakt Kulturhauptstadt Ruhrgebiet feiert "schlicht und stur"

Kulturhauptstadt Ruhr.2010: Party im Schnee
Essen - Die Tänzer schlitterten auf der Bühne durch Streusalz, in die Trompeten rieselte der Schnee, und als Bundespräsident Horst Köhler wieder in seine Limousine stieg, zog ein Vater mit seinem Kind auf dem Schlitten ungerührt am Staatsoberhaupt vorbei. Das Ruhrgebiet hat am Samstag in der einst größten Zeche Europas eine Eröffnungsfeier hingelegt, die zum Charakter der Region passt: ungerührt von großen Namen und von der drohenden Schneewalze des Tiefs "Daisy" - eben "wetterfest", "schlicht" und "stur", wie es der im Ruhrgebiet aufgewachsene Popsänger Herbert Grönemeyer in seiner für die Eröffnung komponierten "Ruhr-Hymne" beschrieb.
Essen ist zusammen mit dem Ruhrgebiet für ein Jahr Kulturhauptstadt Europas. Drei Jahre dauerte die Vorbereitung. Die Region trägt den Titel 2010 zusammen mit Pécs (Ungarn) und Istanbul. "Es könnte gar nicht besser sein", sagte ein gut gelaunter Köhler im grünen Jägermantel beim Festakt. Rund 300 Projekte und 2500 Veranstaltungen sind in dem Jahr in der Region geplant.
Die Bühne direkt neben der stillgelegten Kokerei bot genau den Kontrast, den sich 2010-Chef Fritz Pleitgen erhofft hatte: Vor den Überbleibseln der harten Industriearbeit des "alten" Ruhrgebiets präsentierten Schauspieler, Tänzer, Rapper und Bochumer Symphoniker die Kultur, die dem Revier den Weg in die Zukunft erleichtern soll.
Es war eine rasante Eröffnungsgala, die einiges von der kulturellen Kraft der Region mit über 200 Museen und einer Fülle von Musik- und Sprechtheatern zeigte. Wenn in der Show alte Bilder des Zechensterbens seit den fünfziger Jahren und Demonstrationsplakate mit der Aufschrift "Arbeitslosigkeit, wir kommen" zu sehen waren, schienen trotz der Feierlaune aber die Probleme der Region durch: An die 30 der 53 Kulturhauptstadt-Kommunen sind wegen Überschuldung im Nothaushalt, das Land musste eigens ein Zehn-Millionen-Sonderprogramm für die Städte auflegen, sonst hätten viele sich an ihrem eigenen Fest gar nicht beteiligen können.
"Heute geht ein Traum in Erfüllung", sagte Ministerpräsident Rüttgers
Direkt nach der Abfahrt der Prominenz öffnete Zeche Zollverein die Tore für kostenlose Musik, Kabarett, Kunst und Theater für alle - Zehntausende werden bis zum Sonntagabend erwartet. "Wir wollen eine Kulturhauptstadt zum Mitmachen", betonte Pleitgen.
Köhler würdigte den Strukturwandel im Ruhrgebiet. Heute werde das Ruhrgebiet nicht nur mit seinen stillgelegten Zechen und Stahlwerken assoziiert, sondern auch mit dem Kulturschaffen im Land. Das Ruhrgebiet zeige, "wie sehr Kultur hilft, Würde zu bewahren und den Wandel zu vollziehen". Kultur helfe zugleich, "die Welt von heute zu verstehen und Möglichkeiten von morgen auszuloten".
EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso, der auf Deutsch sprach, erinnerte daran, dass die Idee des modernen Europa mit Kohle und Stahl begonnen habe. Heute sei "der Kohlenpott" ein "Meltingpott" - also ein Schmelztiegel - der Völker und Kulturen. 25 Jahren nach Athen als erster Kulturhauptstadt im Jahr 1985 sei das Ruhrgebiet ein würdiger Titelträger, sagte der Portugiese. Schließlich habe sich die Region durch Vielfalt in Kunst, Kultur, Handel, Gewerbe und auch im Fußball bewiesen.
"Heute geht ein Traum in Erfüllung", erklärte Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Jürgen Rüttgers. Der Titel der Kulturhauptstadt sei ein Glücksfall für Essen und das Ruhrgebiet. Auch nach dem Kulturhauptstadtjahr sollten die Projekte mit Leben gefüllt werden. Deshalb werde das Land nach 2010 zunächst 15 Millionen Euro für das Projekt "Kreativ.Quartiere" bereitstellen. Dabei stellen bisher zehn Städte in freistehenden Immobilien besonders günstige Flächen für Künstler bereit. "So erschaffen wir ein neues kreatives Milieu", sagte Rüttgers. Nach dem Start im Ruhrgebiet soll das Projekt später auf ganz Nordrhein-Westfalen ausgedehnt werden.
Essens Oberbürgermeister Reinhard Paß erklärte offiziell das Kulturhauptstadtjahr für eröffnet. Das Festprogramm in 53 Städten der Region steht unter dem Motto "Wandel durch Kultur, Kultur durch Wandel". "Wir wollen den Mythos Ruhr suchen und damit unsere eigenen Wurzeln", sagte Pleitgen.
Insgesamt werden rund fünf Millionen Besucher zum Kulturhaupstadtjahr erwartet.