Feuilleton-Debatte Bildungsbürger als Bla-Bla-Blockwarte
Politische Debatten in Deutschland sind so aufgebaut wie eine Matroschka, die Puppe in der Puppe in der Puppe, das traditionelle russische Spielzeug für Kinder und Erwachsene. Es geht immer von innen nach außen, fängt klein an und wird immer größer und größer.

Rentner in deutscher Innenstadt: Atmosphäre der Intoleranz?
Foto: DPAAusgangspunkt ist meistens ein Statement, das es in sich hat. Zum Beispiel die Behauptung, das Problem, mit dem wir es gerade zu tun hätten, seien nicht gewalttätige Jugendliche, sondern intolerante Rentner, die durch ihr Benehmen die Jugendlichen zu "Gewalttaten spontaner Natur" provozieren würden. Eine These, über die man bei gutem Wein, feinem Fingerfood und gedämpfter Musik sicher streiten könnte.
Äußert man sie aber öffentlich, zum Beispiel in einem Video-Blog in der Online-Ausgabe der "Zeit", gibt es Ärger. Dann kommt die "FAZ" daher und widerspricht heftig, worauf die "Welt" über den Streit zwischen der "Zeit" und der "FAZ" berichtet, was wiederum die "taz" veranlasst, sich hinter die "Zeit" zu stellen und darüber zu klagen, dass der Kollege "denunziert wird", was zwar eine falsche Anwendung des Begriffes "Denunziation" bedeutet, aber die Diskussion eine Runde voranbringt. Zwischendurch kommen in der "Bild" ein paar Rentner zu Wort, die sich ihrerseits beleidigt fühlen und mit Maßnahmen drohen ("Ich werde so lange die 'Zeit' nicht kaufen, wie dieser Mensch bei Ihnen arbeitet"). Aber zu diesem Zeitpunkt hat man längst vergessen, worum es eigentlich geht.
Also gehen wir zum Point of departure zurück, schauen uns die allererste Matroschka aus der Nähe an, besagten Video-Blog bei der "Zeit" : Wir sehen einen Herrn mittleren Alters an seinem Arbeitsplatz, noch ganz benommen von den "Aussagen über kriminelle ausländische Jugendliche, die ganz entschieden die Grenze zum offenen Ressentiment, wenn nicht versteckten Rassismus überschritten haben", die Aussagen sind gemeint, nicht die kriminellen Jugendlichen. Der Herr findet, man müsse den Blick einmal umdrehen und sich fragen: "In welcher Atmosphäre wachsen ausländische Jugendliche auf?"
Nicht der Täter, das Opfer ist schuld!
Auf diese Frage könnte man antworten: Umgeben von Sozialarbeitern, Bewährungshelfern und Integrationsbeauftragten, die den Jugendlichen zuerst einreden, dass sie diskriminiert werden, um ihnen dann als Reha-Maßnahme eine Ausbildung zum Rapper zu ermöglichen. Aber der Herr gibt eine andere Antwort: Der Rentner in der Münchner U-Bahn, "der sich das Rauchen verbeten und damit den Auslöser gegeben hat zu einer zweifellos nicht entschuldigbaren Tat", war nur das letzte Glied in einer langen Kette von Gängelungen, Ermahnungen, Anquatschungen, die der Ausländer ständig zu erleiden hat. "Und nicht nur der Ausländer. Letztlich zeigt der deutsche Spießer ... überall sein fürchterliches Gesicht". Das sei "die Atmosphäre der Intoleranz, vor deren Hintergrund man Gewalttaten spontaner Natur beachten muss".
Das sind Sätze, die seit 1939, seit dem Überfall auf den Sender Gleiwitz, in dieser Klarheit nicht mehr gesagt wurden: Nicht der Täter, das Opfer ist schuld! Er war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort und brachte das Fass der Gängelungen, die der Ausländer erleiden muss, zum Überlaufen, indem er ihn an das Rauchverbot erinnerte.
Auf dem Abstellgleis
Die Wiederbelebung des deutschen Spießers als Verursacher gesellschaftlicher Übelstände führt die Debatte vollends aufs Abstellgleis.
Denn auch der deutsche Spießer ist nicht mehr das, was er einmal war. Er schaut sich gerne japanische Spielfilme in der Originalfassung an, hört Klezmer-Musik, hat die "Zeit" abonniert, ohne sie unbedingt zu lesen, kennt den Unterschied zwischen Mortadella und Mozzarella und geriert sich beim Essen und Shoppen durchaus multikulturell. Was ihn vollends zum Spießer macht, ist sein Hochmut gegenüber jenen, die er dafür hält: die Ballermann-Urlauber, Sandalenträger und McDonalds-Besucher.
Und so ist es nicht der Proto-Spießer, der "überall sein fürchterliches Gesicht zeigt", sondern der scheinliberale Bildungsbürger, der für jede Untat so lange Verständnis äußert, wie sie nicht unmittelbar vor seiner Haustür passiert. Vollends auf die "Ausländerfeindlichkeit" fixiert, will er nicht wahrhaben, dass es inzwischen auch eine "Inländerfeindlichkeit" gibt und nicht nur "Bürger mit Migrationshintergrund", sondern auch "Migranten mit kriminellem Hintergrund". Stellt man ihm die Frage, warum es bei Migranten mit primär asiatischem Hintergrund nicht die gleichen Probleme wie bei Migranten mit arabischem bzw. muslimischem Hintergrund gibt, schreit er gleich "Rassismus", obwohl es nicht um Rasse, sondern um Kultur und Erziehung geht, die sich im täglichen Verhalten niederschlagen.
Das Dritte Reich als Asservatenkammer
Auf der anderen Seite sind die Scheuklappen, die den Blick auf die Wirklichkeit verstellen, allerdings auch nicht wesentlich kleiner. Schlagen zwei verwahrloste Rabauken einen Rentner nieder, was schlimm genug ist, wird sogleich Stalinismus, Nazismus geschrien, läuten die Glocken schon die nächste Machtergreifung ein. Das deutsche Ritual gibt sich mit nichts weniger als dem Gau zufrieden, das Dritte Reich als Asservatenkammer, aus der man sich nach Belieben bedienen kann, ist immer noch im Betrieb.
So wird eine monströse Gespensterdebatte in historischen Kulissen geführt, bei der die wirklich relevanten Fragen nicht gestellt werden: Könnte es sein, dass nicht an allem "die Gesellschaft" schuld und nicht jeder Migrant ein Opfer der gesellschaftlichen Umstände ist? Dass es auch auf den eigenen Willen ankommt? Auf die Fähigkeit, zwischen richtig und falsch, gut und böse unterscheiden zu können? Und dass es Sachen gibt, die man "einfach nicht macht", egal wie hoch der Wutpegel ist?
"That goes without saying", sagt der Brite, wenn sich etwas von allein versteht. Der deutsche Vordenker dagegen, der alle Selbstverständlichkeiten hinterfragen muss, hat es gerne komplizierter. Fortgeschrittene "Querdenker" verwechseln dann gerne Ursache und Wirkung, so auch unser "Zeit"-Blogger. Er fragt, "ob es nicht zu viele besserwisserische deutsche Rentner gibt, die den Ausländern hier das Leben zur Hölle machen und vielen anderen Deutschen auch." Denn: "Die deutsche Gesellschaft hat nicht so sehr ein Problem mit ausländischer Kriminalität, sondern mit einheimischer Intoleranz."
Das ist kein Witz, keine satirische Übertreibung, er meint es tatsächlich so! Und deswegen müssen wir ihn ernst nehmen. Wenn es in Deutschland zu viele besserwisserische Rentner gibt, die den Ausländern und anderen Deutschen das Leben zur Hölle machen, dann muss man nicht Migranten mit Kriminalitätshintergrund zum Holzhacken nach Sibirien schicken, sondern die Rentner - sofern sie überhaupt resozialisierbar sind. Und als flankierende Maßnahme sollte man das Rauchverbot wieder aufheben, dessen Durchsetzung, wie wir gesehen haben, zu "Gewalttaten spontaner Natur" führt. So bekäme man das Problem der einheimischen Intoleranz in den Griff und wäre damit auch die Bedrohung durch "ausländische Kriminalität" los.
Auch in einem anderen Punkt muss man dem Herrn zustimmen: "Letztlich zeigt der deutsche Spießer ... überall sein fürchterliches Gesicht". Bei der "Zeit" heißt er Jens Jessen und führt dort das Feuilleton.