Fichtners Tellergericht Genuss auf Linie bringen
Nach dem Urlaub weiß man wieder, dass die entscheidende Trennlinie in Europa nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen Nord und Süd verläuft. Im Norden ernährt man sich, im Süden wird gegessen. Das ist ein altes Lied, dem ich heute eine brandneue Strophe hinzudichten möchte, und zwar streng wissenschaftlich.
Ich bin nach eingehendem Kartenstudium darauf gestoßen, dass sich in Europa eine geo-kulinarische Demarkationslinie definieren lässt, die beim Nachdenken über unsere Esskultur äußerst hilfreich ist. Ich nenne sie die Rotterdam-Constanta-Linie und hoffe sehr, dass sich bald Forscherteams daran machen, sie eingehend zu bearbeiten.
Die Linie führt von Rotterdam in südöstlicher Richtung, lässt Brüssel und Lüttich knapp im Süden liegen, im weiteren Verlauf auch Frankfurt und Nürnberg, führt weiter über Wien und Budapest zur rumänischen Schwarzmeerküste nach Constanta.
Entlang dieser groben Achse spaltet sich Europa, offenkundig, und wer einen Atlas nimmt und ein Lineal, wird leicht verstehen, was ich meine. Nördlich der Linie: Kartoffeln, Kohl und fette Würste, und noch weiter oben geräucherter Fisch. Südlich davon: herrliche Fülle, kostbare Öle, Gemüsegärten, Weinberge, Rohmilchkäse, Lämmer, Feigen, Nüsse.
Geographie des Gaumens
Die Linie ist perfekt. Sie trennt Frankreich, Spanien, Italien, die Schweiz und Österreich, Ungarn, Griechenland und Bulgarien vom Norden ab. Und sie tut dabei sogar Deutschland Gerechtigkeit an, indem sie Teile Hessens, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Bayern der südlichen, besseren Hälfte zuschlägt. Nördlich davon: Holland, Dänemark, Polen, Finnland, Niedersachsen, Brandenburg, Slowakei, Länder und Regionen, die der Welt, Hand aufs Herz, kulinarisch nichts zu bieten haben.
Dagegen spricht nicht, dass es Lübecker Marzipan und dänischen Danablu gibt. Mir ist auch klar, dass Lausitzer Leinöl, Meißner Fummel und polnischer Oscypek-Käse ihre Reize haben. Auch bestreite ich nicht, dass holländischer Kanterkaas und die Diepholzer Moorschnucke für "Spezialitäten" durchgehen können - nur ändern derlei Ausnahmen am Gesamtbefund überhaupt nichts. Verglichen mit Frankreich, mit Spanien, selbst mit Bulgarien, ist das alles hübsch, aber unwesentlich.
Dass klimatische Faktoren eine entscheidende Rolle spielen, liegt auf der Hand. Dass die Nachbarschaft zu Atlantik und Mittelmeer nicht schadet, ebenso. Dass der Süden insgesamt reicher an Gebirgszügen ist, die zu kleinteiligerer Landwirtschaft zwingen, spielt eine Rolle. Und natürlich trennt die Rotterdam-Constanta-Linie, von der Ausnahme Polens abgesehen, auch noch ziemlich exakt die in vielen Jahrhunderten katholisch oder orthodox geprägten Regionen Europas von den reformierten, lutherischen, protestantischen.
Das Kreuz mit der Religion
Nun meint ja heutzutage jeder, dass Religionen vom Islam ganz abgesehen in unseren Breiten überhaupt keine Rolle mehr spielen. Aber damit wird ihre fortdauernde kulturelle Macht eben arg unterschätzt. Gegenwart ist ohne Vorgeschichte nicht zu verstehen, und unsere Vorgeschichte spielt vor Altären und Kirchenfenstern, unter Kanzeln und Kreuzen, egal, wie man es dreht und wendet.
Was nun das kulinarische Nord-Süd-Gefälle angeht, ließe sich ganz plump sagen: In Italien sündigen sie fröhlich, dürfen aber seit jeher auf Beichte und Absolution spekulieren. Im Norden dagegen? Sündigt man seit Martin Luther besser gar nicht, weil das am Ende schnurstracks in der Hölle (der Selbstzerknirschung) enden könnte. Wer wollte behaupten, dass solche Vorgaben ohne Folgen bleiben? Für unsere Feste? Unsere Gastmahle? Für unser Essen?
Es bleibt, natürlich, ein weites Feld. Aber wer künftig in der Provence oder in Apulien sitzt, unter einer alten Eiche, mit Freunden und Fremden, auf dem Holztisch vor sich Platten mit Ziegenkäsen, Teller mit Bergschinken, gutes Brot dabei und Oliven, Öl und schweren Wein, und wem es dort im Süden schon graut davor, dass er bald wieder heimfahren muss nach Bremen oder Esbjerg, nach Lodz oder Stavanger der wird wissen, was die Rotterdam-Constanta-Linie beschreibt: Es hat mit Glück zu tun, mit Lebensfreude, mit Genuss - und wo sie auf der Welt zu finden sind.
In diesem Sinne: Guten Appetit und gute Nacht!