
Unterbringung von Flüchtlingen "Integration klappt am besten in Großstädten"
800.000 Flüchtlinge werden bis Ende 2015 nach Schätzungen der Bundesregierung in Deutschland ankommen, auch in den kommenden Jahren werden es wohl nicht weniger werden (Hier finden Sie Hintergründe zu den Prognosen). Die Unterbringung läuft aber nur mäßig: Städte und Kommunen klagen über eine zu hohe Belastung, Flüchtlingsorganisationen über katastrophale Bedingungen in den Unterkünften.
Der mehrfach ausgezeichnete Politologe Aladin El-Mafaalani attestiert der Regierung im Interview mangelnde Konzepte und erklärt, warum die Flüchtlinge möglichst nicht auf dem Land untergebracht werden sollten.
SPIEGEL ONLINE: Herr El-Mafaalani, kennen Sie ein Beispiel für gelungene Flüchtlingsunterbringung?
El-Mafaalani: Da fallen mir mehrere ein. Beispielsweise eine zentrale Einrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Da werden Erstversorgung, Behördenangelegenheiten und Sprachunterricht für Kinder und Jugendliche geleistet, die allein, also ohne ihre Eltern, nach Deutschland eingereist sind. Nach einigen Monaten werden sie dann dezentral, je nach den individuellen Bedürfnissen, untergebracht. Das ist eine unheimlich anspruchsvolle Tätigkeit. Das geht aber natürlich nur gut, wenn die Einrichtungen nicht dauerhaft überbelegt sind.
SPIEGEL ONLINE: Größtenteils werden Flüchtlinge in Deutschland jedoch in Containern, Baumärkten, Pensionen, Privatwohnungen, Kasernen und teilweise sogar in Zelten untergebracht. Erkennen Sie darin einen Plan?
El-Mafaalani: Nein. Mit einer soliden, vorausschauenden Planung oder einem klaren Konzept hat das insgesamt nichts zu tun. Das behauptet aber auch niemand. Das ist bestenfalls Krisenmanagement. Die notwendigen Vorbereitungen hätte man schon vor einigen Jahren treffen müssen, zumindest Notfallpläne hätten konzipiert werden sollen. Aber das wurde versäumt.
SPIEGEL ONLINE: Die Zuwanderung wird auch in Zukunft nicht nachlassen. Müsste man nicht jetzt beginnen, verstärkt menschenwürdige Unterkünfte zu bauen?

Aladin El-Mafaalani ist Professor für Politikwissenschaft an der Fachhochschule Münster und Mitglied im Rat für Migration. Seine Arbeiten zur Bildungs- und Migrationsforschung wurden mehrfach mit Wissenschaftspreisen ausgezeichnet, u.a. von der Universität Augsburg, der Körber-Stiftung und dem Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen. In Kürze erscheint sein neues Buch "Migrationssensibilität - Zum Umgang mit Globalität vor Ort".
El-Mafaalani: Der Staat hat sich aus diesem Bereich stark zurückgezogen, privatwirtschaftliche Träger haben vielerorts den Betrieb der Asylunterkünfte übernommen. Aber marktwirtschaftliche Prinzipien passen eben nicht immer mit den Anforderungen an die Flüchtlingsunterbringung zusammen. Professionelle Beratung, Betreuung und psychologische Versorgung sind eben nicht lukrativ, wenn man sie ernst nimmt. Und viele gute Einrichtungen wurden in den letzten Jahren geschlossen oder umfunktioniert.
SPIEGEL ONLINE: Kanzlerin Merkel sprach bei ihrem Besuch in Heidenau von einer riesigen Herausforderung. Sie kündigte "notwendige Gesetzesänderungen" an. Was ist zu tun?
El-Mafaalani: Man benötigt einen Gesamtplan. Ganz wichtig ist das Geld: Wer finanziert die Unterbringung? Bund, Land, Kommune oder die EU? Es muss klarer werden, woher die fehlenden finanziellen Mittel kommen sollen. Derzeit herrscht große Unsicherheit. Und die finanziellen Möglichkeiten sind in den Bundesländern und Kommunen sehr ungleich. Der Bund wird hier in Zukunft deutlich stärker gefordert.
SPIEGEL ONLINE: Streit gibt es um Erstaufnahmeeinrichtungen: Viele Bürger wollen möglichst dezentrale, kleinere Einheiten, die Länder aus Kosten- und Organisationsgründen lieber große Auffanglager. Welcher Weg ist der richtige?
El-Mafaalani: An Orten, wo es relativ wenig erfahrene Sozialarbeiter und Dolmetscher gibt, kann eine große Einrichtung, in der die Kompetenzen gebündelt werden, sinnvoll sein. Prinzipiell ist aber eine dezentrale Aufteilung vorzuziehen, da so die möglichen Konflikte minimiert werden.
SPIEGEL ONLINE: Flüchtlingsorganisationen fordern, Asylbewerber in den Städten unterzubringen und nicht auf dem Land. Vernünftig?
El-Mafaalani: Auf jeden Fall. Es muss allen klar sein: Sehr viele der Flüchtlinge werden dauerhaft hierbleiben. Eine Rückkehr in die Heimat wird immer unrealistischer, je länger die Krisen in den Herkunftsländern andauern. Also muss man dafür sorgen, dass sich die Menschen hier zurechtfinden, integrieren und verwurzeln können. Und das klappt nun mal am besten in Regionen, die Erfahrung mit Migration haben. Das sind die Großstädte. Dort sind bessere Arbeitsmöglichkeiten, es gibt viele Schulen, die Infrastruktur stimmt, und die Bevölkerung hat eine höhere Stressbewältigungskultur.
SPIEGEL ONLINE: Aber widerspricht das nicht der Idee, Flüchtlinge gerecht über das Land zu verteilen?
El-Mafaalani: Das ist sehr verwaltungstechnisch gedacht. Aber die Fakten sprechen nun mal gegen die Unterbringung in ländlichen Regionen: Auf dem Dorf und in vielen Kleinstädten ist die Versorgung oft schwierig. Der Bus fährt nur alle drei Stunden, Ärzte gibt es nur wenige, Übersetzer noch weniger. Großstädte bieten vorhandene Netzwerke und Beratungsangebote. Zudem ist der Umgang mit Fremdheit in Ballungszentren ohnehin Alltag. Es gibt ein kluges Zitat: "Auf dem Dorf fällt der Fremde auf, in der Großstadt der Bekannte."
SPIEGEL ONLINE: Warum werden dann trotzdem so viele Flüchtlinge auf dem Land untergebracht?
El-Mafaalani: Zum Teil weil man das Integrationspotenzial im ländlichen Raum sehr überschätzt. Es gibt aber auch ernst zu nehmende Gründe: Ausgerechnet in den Regionen, die für Flüchtlinge günstig wären, herrscht ohnehin Wohnungsmangel. Diese Situation führt dazu, dass die Flüchtlinge auf strukturschwache Regionen verteilt werden - dort steht eben Wohnraum zur Verfügung. Dafür fehlen dort andere günstige Rahmenbedingungen.
SPIEGEL ONLINE: Sind die fehlenden bundesweit einheitlichen Mindeststandards für Flüchtlingsunterkünfte ein Problem?
El-Mafaalani: Diese Problematik gibt es auch in anderen Bereichen, etwa im Strafvollzug. Durch die Länderverantwortung sind die Standards zum Teil sehr unterschiedlich. Es ist wichtig, dass sich Bund und Länder auf Normen einigen. Angesichts der großen Zahl der Flüchtlinge geht es aber mancherorts gar nicht anders, als die Standards vorübergehend zu senken. Sonst könnten die Flüchtlinge schlicht nirgendwo übernachten.
SPIEGEL ONLINE: In Kleinstädten wie Heidenau und Freital gibt es fremdenfeindliche Proteste, anderswo brennen Asylunterkünfte. In Hamburg ziehen Bürger gegen Unterkünfte vor Gericht. Weshalb diese Ablehnung?
El-Mafaalani: Der Rassismus ist da, und zwar in allen gesellschaftlichen Schichten, auch im Bürgertum. Und das führt zu juristischen und zunehmend auch wilden und gewaltsamen Konflikten. Gleichzeitig gibt es Protest-Motive, die anders gelagert sind. Etwa wenn das Haus einer alten Frau, die ihr Leben lang dafür gespart hat, nun aufgrund einer Flüchtlingsunterkunft in der Nachbarschaft weniger wert ist. Diese Argumente muss man ernst nehmen. Doch so bitter es für den Einzelnen ist: Wichtiger ist die gesamtgesellschaftliche Sichtweise, individuelle Probleme müssen manchmal zurückstehen.
SPIEGEL ONLINE: Wie sähe die Situation ohne ehrenamtliche Helfer aus?
El-Mafaalani: Zunächst muss man feststellen, dass es ehrenamtliches Engagement in diesem Ausmaß noch nicht gegeben hat. Ich habe kürzlich mit syrischen Eltern gesprochen, die nicht glauben konnten, dass diese vielen Frauen, die sie und ihre Kinder unterstützen, nicht dafür bezahlt werden. Es gibt ja sogar Kommunen, die das freiwillige Engagement und die Sachspenden gar nicht mehr koordinieren können. In der derzeitigen Lage ist eine engagierte Zivilgesellschaft fundamental wichtig. In sehr vielen Orten gibt es sie.
SPIEGEL ONLINE: Wie profitieren Flüchtlinge davon?
El-Mafaalani: Wenn man sich erfolgreiche Biografien von Flüchtlingen in Deutschland anschaut, findet man immer freiwillige Helfer, die den Weg begleitet haben - auch in der Vergangenheit. Hilfsbereitschaft, Empathie, Patenschaften, Kommunikation und Freundschaften - das sind wichtige Dinge, die von Fachkräften allein nicht geleistet werden können. Gemeinsam essen, musizieren, Sport treiben, von solchen alltäglichen Dingen im Austausch mit der ansässigen Bevölkerung profitieren alle. Neben solcher Unterstützung benötigen Migranten aber unbedingt auch eine Perspektive in Deutschland.