Flüchtlingspolitik in Europa "Migration ist die neue Revolution"

Italien sieht sich alleingelassen, Ungarn macht zu: Wie hat die Flüchtlingskrise Europa verändert? Der Politikwissenschaftler Ivan Krastev sagt: Erst dadurch sind lang verdeckte Unterschiede wieder sichtbar geworden.
Einwanderer stehen im Mai 2016 an dem Grenzzaun zwischen Serbien und Ungarn

Einwanderer stehen im Mai 2016 an dem Grenzzaun zwischen Serbien und Ungarn

Foto: Edvard Molnar/ picture alliance / dpa
Zur Person
Foto: Dejan Petrovic/ Suhrkamp

Ivan Krastev, Jahrgang 1965, ist Vorsitzender des Centre for Liberal Strategies in Sofia und Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien. Seit 2015 schreibt der Politologe regelmäßig Analysen für die internationale Ausgabe der "New York Times".

SPIEGEL ONLINE: Herr Krastev, in Ihrem Buch schreiben Sie: "Die Flüchtlingskrise erweist sich als Europas 11. September." Inwiefern ist ein Terroranschlag vergleichbar mit einer Migrationsbewegung?

Ivan Krastev: Mir geht es um die Auswirkungen von zwei sehr unterschiedlichen Ereignissen. Und die ähneln sich: 9/11 führte dazu, dass die US-amerikanische Deutung der Globalisierung grundlegend kippte. Zuvor wurde diese vor allem als Amerikanisierung verstanden; in Form harter Politik und Militärinterventionen, aber auch in weicher Form, etwa durch die Verbreitung der englischen Sprache und der US-Popkultur. Jetzt musste diese geistige Haltung komplett überdacht werden.

SPIEGEL ONLINE: Mit welchem Ergebnis?

Krastev: Die eigene Verletzlichkeit in einer globalisierten Welt wurde erkannt. Diese Umdeutung ließ reaktionäre Kräfte erstarken und führte letztlich auch zu der Polarisierung, die wir heute im Trump-Amerika beobachten können. Längst gewachsene Strukturen kristallisieren sich oft in solchen scheinbar zufälligen, aber prägenden Ereignissen, Zerfallsmomenten.

SPIEGEL ONLINE: Und ein solcher Zerfallsmoment ist die Flüchtlingskrise auch?

Krastev: Sie birgt zumindest das Potenzial, dass Europa zerbricht. Die Flüchtlingskrise macht Unterschiede sichtbar, die lange nicht beachtet wurden - ein positiver Nebeneffekt, wenn man so will. Genauso wie die amerikanische Öffentlichkeit nach der Trump-Wahl plötzlich realisierte, dass die Bevölkerung in zwei völlig unterschiedlichen Amerikas lebt - einem ländlichen-reaktionären und einem kosmopolitisch-liberalen - wird sich auch Europa der eigenen Polarisierung bewusst. Die Hälfte der EU-Länder haben sich von Anfang an gegen die Aufnahme von Flüchtlingen gewehrt. Hier sehe ich vor allem eine West-Ost-Spaltung, die aber auch durchaus Ähnlichkeiten mit der neuen US-Unterscheidung zwischen reaktionären und liberalen Kräften besitzt.

SPIEGEL ONLINE: Ungarn, Polen und Tschechien etwa wehren sich stark gegen die Umverteilungspläne der EU. Sie wollen keine Flüchtlinge aufnehmen.

Krastev: Es gibt viele historische Gründe für die Ablehnung von Flüchtlingen in den zentral- und osteuropäischen Ländern. Und die sind nicht nur bei populistischen Führern wie Viktor Orbán oder Jaroslaw Kaczynski verbreitet, sondern viel tiefer verwurzelt in der Bevölkerung und im ganzen Parteienspektrum zu finden: Viele der Länder sind heute ethnisch extrem homogen; Multikulturalismus wird häufig als Rückschritt in vergangene, nicht nur gute Zeiten gedeutet: Während etwa noch vor dem Zweiten Weltkrieg mehr als ein Drittel der Polen eben keine Polen waren, sondern Deutsche, Juden, Ukrainer, machen Minderheiten dort nur noch zwei Prozent aus. Ähnliches gilt auch für die Ungarn und Tschechen. Auch die Erfahrung mit den eigenen Minderheiten spielt eine Rolle, Sinti und Roma werden ja immer noch stark diskriminiert. Die Haltung ist: Wie sollen wir denn jetzt noch Syrer integrieren, die kulturell noch unterschiedlicher sind? Dazu kommen in manchen Regionen Vorurteile gegenüber dem Islam, die in den Erfahrungen mit dem Osmanischen Reich wurzeln und sich bis heute fortsetzen.

SPIEGEL ONLINE: Gibt es noch andere Gründe?

Krastev: Unter anderem die unterschiedlichen Lektionen, die aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen wurden. Der westeuropäische Anti-Nationalismus, etwa der deutschen Achtundsechziger, war eine Reaktion auf die Fremdenfeindlichkeit der Nazis. Die anti-kosmopolitische Haltung in vielen zentral- und osteuropäischen Ländern wiederum ist - teilweise - erklärbar mit der Abneigung gegen den vom Kommunismus aufgezwungenen Internationalismus. Dazu mischt sich seit 1989 eine geradezu moralische Furcht vor der eigenen Sterblichkeit. Da geht es gar nicht um ökonomische Ängste, sondern um die Frage: Wer werden wir sein in 100 Jahren, wer spricht dann noch unsere Sprache? Seit dem Ende des Kommunismus verließen 2,5 Millionen Polen ihr Land, Rumänien schrumpfte um 3,5 Millionen Einwohner.

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SPIEGEL ONLINE: Ist die Auswanderung nicht gerade eine Erfahrung, die diese Länder teilen mit den neuen Migranten?

Krastev: Natürlich. Migration ist in unserem Jahrhundert die neue Revolution, nicht ideologisch, sondern von Google Maps geleitet: Wenn du dein Leben ändern willst, ist nicht das Klügste, deine Regierung zu ändern, sondern das Land, in dem du wohnst. Die Polen kamen ja schon nach Deutschland, bevor sie in der EU waren. Viele erwarteten, dass gerade die Osteuropäer Solidarität mit Einwanderern zeigten, weil sie ihre Erfahrungen historisch teilen. Aber zu der generellen Ablehnung von Flüchtlingen mischt sich eben auch das Wissen darum, wie schwer es ist, die Grenzen zu schließen und jemanden aufzuhalten, der sich aufmacht, um die eigene Lebenssituation zu verbessern.

SPIEGEL ONLINE: In Ungarn werden Geflüchtete mittlerweile interniert. Die Folgen dieser Haltung sind übel.

Krastev: Aber, unabhängig vom moralischen Urteil, ist diese Haltung erst mal plausibel. Das Vertrauen in die EU-Institutionen war in vielen ost-und zentraleuropäischen Ländern mal größer als in die eigenen Regierungen. Das hat sich durch die Flüchtlingskrise umgekehrt. Orbán und Co transportieren die Botschaft: Wir mögen zwar korrupter sein als die Technokraten in Brüssel. Aber wir bleiben bei euch, und das im wahrsten geografischen Sinne. Wir erklären uns mit eurer Identität solidarisch und nicht mit der der neuen Einwanderer. Orbán konnte seine Anti-Flüchtlingspolitik so wunderbar instrumentalisieren, um die eigene Macht auszubauen. Dass er jetzt, wo Ungarn hermetisch gegen Flüchtlinge abgeschottet ist, mit antisemitischem Unterton Verschwörungstheorien - etwa über den Milliardär George Soros - verbreitet, ist kein Zufall. Er muss sich neu legitimieren.

SPIEGEL ONLINE: Warum war der europäische Westen so blind gegenüber diesen Entwicklungen?

Krastev: Nach 1989 war die Haltung des Westens die eines Therapeuten, der zu einem Patienten spricht. Man war davon ausgegangen, die Globalisierung werde nun, da alle ideologischen Konflikte überwunden seien, den Niedergang des Staates und des Nationalismus beschleunigen. Das europäische Projekt wurzelt ja in einem universellen Fortschrittsgedanken: Dass sich die Menschheit in eine demokratische Gesellschaft fortentwickeln wird. Das stellt die Flüchtlingskrise infrage, weil sie zeigt, dass Geschichte viel widersprüchlicher funktioniert: Menschen, die sich als Mehrheiten wahrnehmen - und das in ganz Europa - haben plötzlich Angst vor einer Verschwörung kosmopolitischer Eliten und Migranten. Begleitet wird das von einem Niedergang des Menschenrechtsdiskurses.

SPIEGEL ONLINE: Was meinen Sie damit?

Krastev: Wie lassen sich die universellen Rechte damit vereinbaren, dass wir sie nur als Bürger freier und wohlhabender Gesellschaften genießen? Die Migrationskrise konfrontiert den Liberalismus mit einem zentralen Widerspruch. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden neue Staaten erschaffen, nach dem Zweiten Weltkrieg Gesellschaften durch Umsiedlungen homogenisiert. Nach 1989 aber wollte die Politik nicht die Gesellschaft und nicht die Grenzen ändern. Sondern den Charakter der Grenzen, indem man sie öffnete. Seit der Flüchtlingskrise sprechen wir wieder darüber, Grenzen zu schließen. Die EU wurde gebaut um harte Haushaltspläne und weiche Grenzen. Durch die Flüchtlings-, und auch die Finanzkrise, kehrt sich das um. Wir bewegen uns Richtung harter Grenzen und einen weicheren Umgang mit Finanzen.

SPIEGEL ONLINE: Der französische Präsident Macron unterstützt die Idee von Flüchtlingslagern in Libyen, will die Eurozone aber gleichzeitig stärker integrieren, etwa durch gemeinsame Wirtschaftsminister. Ist dieser Mix aus Europaeuphorie und Abschottung die neue liberale Linie?

Krastev: Das ist ein Trend, wenn auch kein neuer: Schon im 19. Jahrhundert während der Aufklärung, gaben sich viele Europäer sehr offen und fortschrittlich daheim - aber nicht mehr, wenn es um die Politik außerhalb der eigenen Landesgrenzen ging.

SPIEGEL ONLINE: Wie könnte eine europäische Flüchtlingspolitik alternativ aussehen?

Krastev: Schwierig. Ich will derzeit wirklich nicht der Ratgeber der deutschen Regierung sein. Schwierigkeitslevel: Als würde man die US-Regierung im Umgang mit Nordkorea beraten. Auf kurze Sicht kann ich mir nichts anderes vorstellen als Geldflüsse Richtung Südeuropa und einen Deal mit einem afrikanischen Staat, ähnlich Merkels Abkommen mit der Türkei. Ich halte unsere Politiker sicher nicht für die hellsichtigsten. Aber dass ein gesamteuropäischer Plan fehlt, liegt teilweise auch daran, dass die Debatte so stark von einem öffentlichen Druck geprägt ist, die die Geduld aus dem politischen Prozess nimmt und jede Entscheidung stark moralisiert, über Gut und Böse sofort entschieden haben will. Politik aber braucht Zeit.

SPIEGEL ONLINE: Wann fand so eine Moralisierung etwa statt?

Krastev: Merkels Deal mit der Türkei wurde stark kritisiert. Fraglos ist es immer problematisch, mit autoritären Regimen zu kooperieren; allein, weil man ihnen eine Machtposition verleiht, aus der heraus nicht nur gefordert, sondern auch erpresst werden kann. Was aber überhaupt nicht beachtet wurde: Das Abkommen war auch ein Signal. Es zeigte, dass die Politik den Zuzug stoppen kann, wenn sie will. Merkel nahm so den Rechtspopulisten auch etwas den Wind aus den Segeln.

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