Wohnungsfotografie Die Poesie des Privaten
Gemütlich oder minimalistisch, steril oder chaotisch? Ein Zuhause sagt viel über die Person aus, die es bewohnt. Das erkannte auch der US-Fotograf Alec Soth - für seinen neuen Fotoband "I Know How Furiously Your Heart Is Beating" betrat er private Zufluchtsorte von Menschen in aller Welt.
Mit den intimen Aufnahmen gelingt es Soth nicht nur, die Besonderheiten der Einrichtung hervorzuheben - sondern auch, die Gefühlswelt und den Charakter seiner Modelle zu vermitteln: Soth zeigt etwa den älteren Herrn Leopold, der auf seinem Retro-Sofa sitzt. Trüge er ein Hemd, hätte der Beobachter vermutlich den Eindruck, es handele sich um einen ganz normalen Senioren. Doch Leopolds nackter Oberkörper ist bemalt, voller altmodischer Seemannstattoos. Sofort eröffnen sich neue Assoziationen für den Betrachter: Erzählt die Trauer in seinem Blick davon, dass er die Weiten des Meeres vermisst?
Ein anderes Foto scheint rätselhafte Widersprüchlichkeiten ganz direkt abzubilden: Die Berlinerin Yuko ist mit ihren gelben, kurzen Haaren und dem extravaganten, senffarbenen Kleid ein Farbtupfer in ihrem komplett weißen Zimmer. Doch obwohl sie mit ihrem Aussehen gewissermaßen Mut beweist, steht sie mit niedergeschlagenem Gesichtsausdruck und in geknickter Pose in dem leeren Raum.
Zum Teil zeigt Soth die Bewohner auch gar nicht, sondern lichtete nur ihre Einrichtung ab. Aber auch die Menschenleere verrät immer etwas, und macht deshalb neugierig. Wer ist die Frau, die ihre Bücher im Regal stapelt, vor einer Wand, die von Rissen und braunen, nassen Flecken durchzogen ist? Fühlt sie sich in dieser dreckigen Umgebung wohl? Dahingegen wird ganz klar, welche Prioritäten der Baseballfan setzt, der im braunen Blümchentapetenzimmer wohnt: Während er Wimpel, Poster und Karten von seinem Lieblingsverein akkurat an die Wand gehängt hat, schmeißt er Kartons, Papiere und Decken achtlos auf Sofa und Boden.
Preisabfragezeitpunkt
09.06.2023 17.16 Uhr
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Kein Zuhause, das Soth in seinem Fotobuch zeigt, gleicht dem anderen. Das ist anders als bei seinen vorherigen Werken. Zwar porträtierte Soth schon immer Menschen mit einer Prise Melancholie, hielt auch private Momente fest - zum Beispiel Paare im Bett. Doch bislang hatten die Abgelichteten immer mehr gemeinsam: In seinem ersten Fotoband "Sleeping by the Mississippi", mit dem er 2004 international bekannt wurde, zeichnete er auf einem Roadtrip entlang des Mississippi ein Bild des amerikanischen Lebens, suchte nach den Gemeinsamkeiten innerhalb einer Nation.
Sein neuer Ansatz, gerade durch intime Annäherung große Unterschiede zwischen Menschenleben aufzuzeigen, ist die Folge einer einjährigen Schaffenspause: Nach einer "mystischen Erfahrung" beim Meditieren, wie er es selbst formuliert, überdachte Soth seine Arbeitsweise. Für über ein Jahr hörte er mit dem Reisen auf, blieb selbst zu Hause und fotografierte keine Personen mehr.
In einem Interview mit der US-amerikanischen Journalistin Hanya Yanagihara, das Teil des Bandes ist, sagt Soth, dass seine Idee für viele langweilig klingen mag: "Porträts und Einrichtungen klingen nicht so sexy wie eine Reise entlang des Mississippi." Aber er wolle seine Modelle nicht mehr in bestimmte Posen drängen, lieber genau hinschauen. Dass er sich stärker auf das konzentriert, was die Menschen von sich aus anbieten, spiegeln auch seine neuen Fotos, die tatsächlich so gar nicht langweilig sind: Sie wirken schlicht, ruhig und natürlich. Mit einem Hauch von Poesie.
Das Fotobuch "I Know How Furiously Your Heart Is Beating" wird von vier Ausstellungen in Minneapolis, New York, San Francisco und Berlin flankiert. In Berlin findet die Ausstellung bis 18. April in der Galerie Loock statt.