
"Days with my Father": Ein zärtlicher Abschied in Bildern
Sensible Fotoserie "Jedes Bild ist ein Liebesbrief an meinen Vater"
Frage: Herr Toledano, Sie haben für "Days with my Father" ihren demenzkranken Vater fotografiert - zwei Jahre lang bis zu seinem Tod. Ein Versuch, die Zeit aufzuhalten?
Toledano: Ich wollte vor allem die Erinnerung festhalten. Festhalten, wie er aussah, wenn ich ihm sagte, dass ich ihn liebe. Wie er mich ansah, wenn wir uns versprachen, die Dinge, die wir zueinander sagten, nie zu vergessen. Also begann ich, Fotos zu machen. Meine Mutter ist sehr plötzlich an einer Hirnblutung gestorben. Bei ihr habe ich die Möglichkeit zu alledem versäumt.
Frage: Nach dem Tod Ihrer Mutter waren Sie allein mit Ihrem Vater, der 96 Jahre alt war, dessen Kurzzeitgedächtnis nicht mehr funktionierte und der rund um die Uhr Pflege brauchte. War es ein Schock?
Toledano: Ich war völlig überfordert. Ihn in ein Heim zu geben, wo ihm alles fremd war, brachte ich nicht übers Herz. Also organisierte ich ihm eine 24-Stunden-Betreuung in seinem alten Zuhause und sah selbst so oft es ging nach ihm. Das ist der Vorteil, wenn man als freier Fotograf arbeitet.
Frage: Ihr Vater war Künstler und in den dreißiger Jahren sogar Schauspieler in Hollywood. Als Sie zur Welt kamen, war er schon Ende 50. Haben Sie ihn durch seine Krankheit neu kennengelernt?
Toledano: Es mag seltsam klingen, aber nach dem Tod meiner Mutter war mein Vater nicht mehr mein Vater im früheren Sinne. Plötzlich kümmerte ich mich um ihn. Er wurde mehr die Person, die er war, als er jünger war. Er war witziger, er sang viel, machte Wortspiele. Er war in allem viel verletzlicher. Mein Vater erzählte mir Sachen, die er mir davor nie erzählt hatte. Wir hatten immer eine enge Beziehung, aber nun war er so dankbar für meine Gegenwart.

Frage: Wie gingen Sie mit seiner Demenzerkrankung um?
Toledano: Die ersten drei, vier Monate nach dem Tod meiner Mutter habe ich versucht, ihn in die Realität zu zerren. Doch immer, wenn er fragte: 'Wo ist deine Mutter?', und ich ihm antwortete, dass sie gestorben sei, war er voller Schock und Schmerz. Es war so entsetzlich für ihn, diese Gefühle wieder und wieder zu durchleben und entsetzlich für mich, diese Unterhaltung immer wieder zu führen. Irgendwann hat mir sein Arzt geraten zu lügen. Ich sagte ihm, seine Frau sei in Paris, um ihren kranken Bruder zu pflegen. Man muss einfach kapitulieren. Aufgeben. Und zwar nicht Freude, Schönheit oder Liebe - sondern die Realität. Hauptsache, es macht ihn glücklich.
Frage: Gab es Momente, wo er die Wahrheit wusste?
Toledano: Ich glaube, tief drinnen wusste er immer, dass seine Frau tot war. Wir spielten ein Spiel, ein Theaterstück, mit dem wir uns gegenseitig beschützten. Manchmal sah er mich auf eine besondere Weise an, dann bin ich ins Badezimmer, habe mich eingeschlossen und geweint. Ich konnte nicht vor ihm weinen, das hätte das Stück ruiniert.
Frage: Auf manchen Fotos scheint Ihr Vater mit der Kamera zu kokettieren. Er gibt den gestenreichen Erzähler oder den verschmitzten Clown. Hat er gerne mitgemacht?
Toledano: Mein Vater hat es zwar immer wieder vergessen, aber ich habe ihm erzählt, dass ich Fotos mache, um unser Leben zusammen festzuhalten, mich daran zu erinnern. Die Idee mochte er. Aber nach vier, fünf Aufnahmen hatte er auch immer genug. Ich habe in den zwei Jahren nur rund 200 Fotos gemacht. Die Fotografie sollte nicht zu viel Raum einnehmen. Es war ohnehin seltsam, vom kümmernden Sohn zu jemandem zu werden, der über Aufbau, Licht und Komposition nachdenkt.
Frage: War es für Sie von Anfang an eine künstlerische Arbeit?
Toledano: Ich wollte vor allem die Zeit mit meinem Vater dokumentieren. Dann habe ich alles ins Internet gestellt, weil ich irgendwie Abstand brauchte. Und plötzlich wurde die Seite mehr als zwei Millionen Mal aufgerufen und ich bekam Zehntausende Mails. Viele Teenager haben mir über die Liebe zu ihrem Vater geschrieben. Manche Menschen erzählten, sie hätten durch die Bilder zum ersten mal nach 15 Jahren wieder mit ihren Eltern gesprochen. Als Künstler macht man, pauschal gesagt, nicht oft Dinge, die wirklich nützlich sind. Doch etwas über die Welt auszusagen, Menschen anzurühren, ist für mich der Sinn von Kunst. "Days with my Father" ist das Beste, was ich je tun werde.
Frage: Wie erklären Sie sich die große Resonanz?
Toledano: Die Fotografien zeigen eine Vielfalt von Emotionen, nicht nur Abschied und Tod, sondern auch viele witzige Momente. Für mich sind es Liebesbriefe an meinen Vater. Ich weiß, dass ich in gewisser Weise Glück hatte. Mein Vater konnte es sich leisten, zu Hause gepflegt zu werden. Er hatte keine schlimme Form von Demenz, er wusste immer, wer ich war. Aber man muss das Beste aus dem drohenden Abschied machen und sich dessen bewusst sein. Du kannst dir die Zeit nehmen, dich kümmern - oder nicht. Du kannst dich damit auseinandersetzen - oder nicht. Ich schätze mich glücklich, dass ich so von meinem Vater Abschied nehmen konnte. Und er von mir.
Frage: "Days with my Father" gibt es nicht nur online , sondern auch als Buch und seit dieser Woche ist die Geschichte Ihrer Eltern zudem in der Filmdokumentation "A shadow remains" ("Ein Schatten bleibt") zu sehen. Wieso dieser Titel?
Toledano: Eltern sind wie ein sehr helles Licht. Wenn sie sterben, ist das Licht aus, aber du siehst ihre Schatten in dir. Seit meine Eltern tot sind, sehe ich, worin ich meiner Mutter ähnle, worin meinem Vater. Und dann sehe ich Dinge in Loulou, die so gerne malt. Bilder liebt. Vielleicht tut das jedes Kleinkind, aber vielleicht hat sie das auch von meinem Vater. Vielleicht ist da ein kleiner Funke von ihm in ihr. Das macht mich glücklich. Sie spielt auch eine Rolle in der halbstündigen Dokumentation. Es geht um Liebe, ums Elternsein, um Abschied.
Frage: Zeitgleich zu "Days with my Father" haben Sie an der Serie "A new kind of Beauty" gearbeitet. Sie zeigt Menschen, die krasse Schönheitsoperationen hinter sich haben, im Stil altmeisterlicher Porträts. Wie passen die beiden Arbeiten zusammen?
Toledano: Schönheitsoperationen sind das Gegenteil von Sterblichkeit und Altern. Sie leugnen all das. Derzeit arbeite ich am dritten Teil dieser Reihe: "Maybe, maybe not". Darin geht es um meine eigene Sterblichkeit. Dafür habe ich per DNA-Test ermitteln lassen, welche Krankheiten ich kriegen könnte, ob ich zur Fettleibigkeit neige, solche Sachen. Und Wahrsagerinnen haben mir die Zukunft vorausgesagt. Mit Hilfe von Maskenbildnern habe ich in Bilder umgesetzt, wie ich in den nächsten 40 Jahren aussehen könnte. Dick, frustriert, erfolglos - oder glücklich. Ich mit Mitte 50, mit 70. Und mit 92, fast so alt, wie mein Vater war. Das war sehr emotional. Aber er sah besser aus.
Das Interview führte Daniela Zinser