

SPIEGEL ONLINE: Herr Ballen, wenn man Fotografen nach dem Beginn ihrer Leidenschaft fragt, sprechen sie meist über ihre erste Kamera. Sie auch?
Ballen: Nein. Meine Mutter hat bei der berühmten Fotoagentur Magnum in New York gearbeitet und hatte gute Kontakte zu den Fotografen. Sie hat sehr für ihre Helden geschwärmt. Und ihre Helden wurden meine Helden. Die Fotografen haben ihr viele Abdrücke und Bildbände geschenkt - also war ich ständig von ihren Bildern umgeben.
SPIEGEL ONLINE: Wer hat Sie am meisten beeindruckt?
Ballen: Elliott Erwitt. Von ihm habe ich den Humor, den man auch in meinen Bildern erkennen kann. Henri Cartier-Bresson. Er hatte ein einzigartiges Gespür für den entscheidenden Moment - den Moment, in dem ein Bild entsteht. Und Paul Strand hat mir viel über die perfekte Komposition beigebracht.
SPIEGEL ONLINE: Sie kannten auch André Kertész.
Ballen: Er war in erster Linie Künstler, dann erst Fotograf. Durch Kertész und seine Arbeit habe ich begriffen, dass Fotografie mehr ist als die bloße Dokumentation von Realität. Ich fand es sehr inspirierend, wie er Gewöhnliches in Ungewöhnliches verwandeln konnte. Einige seiner besten Bilder hat er von seiner Wohnung aus, am Washington Square in New York, aufgenommen. Auch ich habe dann Bilder von seinem Balkon aus gemacht, um von ihm zu lernen.
SPIEGEL ONLINE: Sie sind kommerziell sehr erfolgreich, auch in der Popkultur. Ihr Video "I Fink U Freeky" hat letztes Jahr viel dazu beigetragen, die südafrikanische HipHop-Gruppe Die Antwoord international bekanntzumachen. Der Clip wurde 33 Millionen Mal auf YouTube angeklickt.
Ballen: Ich kenne die Gruppe schon sehr lange. Die Sänger haben vor sieben Jahren Kontakt zu mir gesucht und mir erzählt, dass sie sich sehr stark mit meiner Arbeit identifizieren könnten. Die beiden, Ninja und Yolandi, schickten mir auch einige ihrer Musikvideos. Ich wusste erst gar nicht, was ich damit anfangen soll, ich habe ja nie Videofilme gedreht. Zwei Jahre später kamen sie für einen Promo-Termin für ihr erstes Album von Kapstadt nach Johannesburg, wo ich wohne, und ich machte die ersten Fotos von ihnen. Im Jahr 2010 bauten sie dann einige von meinen Bildern in eines ihrer Videos ein. Zu der Zeit ging es so richtig mit ihrer Karriere los.
SPIEGEL ONLINE: Und wie lief dann die Arbeit als Regisseur von "I Fink U Freeky"?
Ballen: Wir haben uns blind verstanden. Sie mochten meine Ästhetik - starke, ernsthafte Bilder, die in die menschliche Psyche eindringen. Das spielt auch bei ihrer Musik eine Rolle, meine Kunst hat den beiden als Inspirationsquelle gedient. So hat sich alles gefügt: Die Musik, meine Bilder und Themen, an denen ich schon seit Jahren arbeite.
SPIEGEL ONLINE: Wann genau haben Sie angefangen zu fotografieren?
Ballen: Mit 18 hatte ich meine erste richtige Kamera - eine Nikon FTN. Und dann habe ich während meines Psychologiestudiums in Berkeley von 1968 bis 1972 viele Fotos gemacht. Eine wichtige Zeit damals. Berkeley war der Inbegriff der Gegenkultur. Ich habe mich damals sozial und politisch engagiert: Anti-Vietnam-Proteste, Bürgerrechte.
SPIEGEL ONLINE: Und dann sind Sie ins Südafrika der Apartheid gezogen. Wie kommt ein Berkeley-Absolvent und Bürgerrechtsaktivist auf so eine Idee?
Ballen: Nach Südafrika bin ich auf einem eher ungewöhnlichen Weg gekommen. Fünf Jahre bin ich zunächst um die Welt gereist, dann habe ich 1981 in Colorado einen Doktor in Geologie gemacht. Es war nicht leicht zu dieser Zeit in Amerika - eine Gesellschaft, geprägt von Konkurrenzdruck und Geschlossenheit. In Südafrika lebte man in einem entwickelten Land, aber man hatte eben auch viel Dritte Welt um sich herum.
SPIEGEL ONLINE: Aber die Apartheid ist doch nicht einfach so an Ihnen vorbei gegangen?
Ballen: Überhaupt nicht: Ich wollte mit meinen Bildern einen politischen Wandel anstoßen, was mir mit "Platteland" auch gelungen ist - das Buch hat die Wahrnehmung der Südafrikaner von sich selbst beeinflusst. In dem Bildband sieht man Weiße, die am Rand der Gesellschaft leben. Damit habe ich den Mythos der weißen Überlegenheit gebrochen. Als "Platteland" veröffentlicht wurde, musste ich mir viele Vorwürfe gefallen lassen. Ich wurde damals als eine Art Whistleblower angesehen - in etwa so wie Edward Snowden.
SPIEGEL ONLINE: Macht das "Platteland" zu einem politischen Buch?
Ballen: In meinen Augen nicht. Mein Anliegen war es, grundlegende Aspekte des menschlichen Daseins darzustellen. Die Bilder von "Platteland" haben - sogar in den USA und in Europa - auch für die Folge-Generationen eine Bedeutung, die nur sehr wenig über Apartheid wissen.
SPIEGEL ONLINE: Sie selbst haben Ihre Fotografie ja oft als psychologisch beschrieben. Wie kommen Sie dazu?
Ballen: Fotografie ist für mich so wie Tagebuch schreiben. Ein Weg, mein Leben darzustellen, meine Erfahrungen festzuhalten. Fotos sind für mich wie Fossilien. Sie helfen mir, bei meiner Reise durch die Zeit zurechtzukommen.
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US-Fotograf Roger Ballen nahm die Zwillinge Dresie und Casie im Jahr 1993 für seinen Bildband "Platteland" auf. Seine Serie, entstanden in den ländlichen Gebieten von Südafrika, zeigt benachteiligte, verarmte und ausgegrenzte Weiße - die doch eigentlich in der Apartheids-Logik zur privilegierten Minderheit gehören sollten.
Sergeant de Bruin, ein Polizist, der in einem Gefängnis arbeitet (1992) - ebenfalls Teil der "Platteland"-Serie.
Bild eines Jungen aus dem Osten Malaysias (1975) aus der Serie "Boyhood": Beeinflusst wurde Roger Ballen von Größen wie André Kertész, Elliott Erwitt, Henri Cartier-Bresson und Paul Strand.
"Boyhood"-Bild aus den USA: Fotografie sei für ihn so ähnlich wie Tagebuch schreiben, sagt Ballen.
"Eugene am Telefon" (2000) aus der Serie "Outland": Für "Outland" inszeniert Ballen bewusst zweideutig. Der Betrachter muss sich fragen, ob die Abgebildeten ausgebeutete und der Lächerlichkeit preisgegebene Opfer sind - oder ob sie als aktive und bewusste Darsteller ihrer selbst an Stärke gewinnen.
"Brian mit einem Hausschwein" (1998), ebenfalls aus der Serie "Outland": Mit 18 hat Ballen angefangen zu fotografieren. Zunächst während des Studiums in Berkeley, dann in seiner Wahlheimat Südafrika.
"Welpe zwischen Füßen" (1999): Das Fotobuch zu "Outland" ist eine außerordentliche und auch verstörende Dokumentation des späten 20. Jahrhunderts.
"Tommy, Samson und eine Maske" (2000) aus der Serie "Outland". Fotos, sagt Ballen, seien für ihn wie Fossilien: Sie helfen ihm, bei seiner Reise durch die Zeit zurechtzukommen.
"Einarmige Gans" (2004) aus der Serie "Shadow Chamber", die von abstrakten Bildern beherrscht wird, mit Charakteren ohne erkennbare Herkunft. Die mysteriösen Bilder sollen das Bewusste und das Unbewusste ansprechen.
"Kopf im Shirt" (2001) aus der Serie "Shadow Chamber": Ballens Anliegen ist es, "grundsätzliche Aspekte des menschlichen Daseins" darzustellen. In "Shadow Chamber" erforscht er das "Schattenkabinett des Daseins".
"Herumwirbelnde Drähte" (2001) aus der Serie "Shadow Chamber". In unwirklichen Räumen interagieren Mensch, Tier und Objekt.
"Raum der Ninja Turtles" (2003) aus der Serie "Shadow Chamber": Ballen zeigt die menschliche Existenz verzerrt und ein wenig irrsinnig.
Yolandi Visser, die Sängerin der südafrikanischen Band Die Antwoord: Ballen drehte 2012 mit der Gruppe ein Musikvideo für das Lied "I Fink U Freeky". Es wurde mehr als 33 Millionen Mal auf YouTube angeklickt.
"Spooky Eyes" (2012): Mitglieder von Die Antwoord unter Kontrolle einer bösen Schwiegermutter.
Ententeich: Diese Aufnahme entstand beim Videodreh von "I Fink U Freeky".
"Liberation" (2011) aus der Serie "Asylum": Das Fotobuch zur Serie erscheint 2014. Den Humor in seinen Bildern habe Ballen von Elliott Erwitt gelernt, sagt er.
"Mirrored" (2012) aus der Serie "Asylum"
"Take off" (2012), ebenfalls aus der Serie "Asylum"
"Malicious" (2012) aus "Asylum"
"Bite" (2007) aus der Serie "Boarding House": Das "Boarding House" ist für Ballen eine Art vorübergehender Aufenthaltsort, es herrscht ein Kommen und Gehen von allen möglichen Gestalten, die dort Schutz suchen.
"Mimicry" (2005) aus der Serie "Boarding House": Die nur mit dem Nötigsten ausgestatteten Räume erzählen mit ihren Zeichnungen, dem zurückgelassenen Kram und allerlei Tieren von der Vergangenheit - und vielleicht auch von der Kindheit.
"Serpent Lady" (2009) aus der Serie "Boarding House": Die Räume wirken befremdlich, regen zu wilden Phantasien an.
"Pathos" (2005) aus der Serie "Boarding House"
"Five Hands" (2006) aus "Boarding House"
"Old Man": Ballen hat diesen alten Mann 1983 in Ottoshoop an der Grenze von Südafrika und Botswana für seine Fotoserie "Dorps" aufgenommen. Er reiste viele Jahre lang durch Städtchen und Dörfer Südafrikas.
"Bedroom of Railwayworker" (1984) aus der Serie "Dorps": Die Bilder der Serie sind sehr nüchtern und direkt.
"Front Door" (1983) aus "Dorps": Ballen entwickelte einen Blick für unscheinbare Ecken, für die "Schönheit" alter Häuser, abgewrackter Geschäfte und ärmlicher, bescheidener Menschen.
"Bedroom Bethulie" (1984) aus "Dorps": Das Alltägliche und das Heruntergekommene werden hier zu stiller Poesie.
"Ritual" (2011): "Es war schon immer Teil meiner Fotografie und meiner Psychologie, die elementareren Aspekte der menschlichen Persönlichkeit offenzulegen: Gewalt, der Wille zur Macht, sexuelle Dominanz", sagt Roger Ballen im Interview mit SPIEGEL ONLINE.
Sein Universum sei "voller Chaos, Zusammenbruch und Anarchie, voller Irrationalität, ja sogar Wahnsinn", sagt Ballen. Hier die Arbeit "Alter Ego" aus dem Jahre 2010.
"Caged" (2011). "Nach fast 64 Jahren auf diesem Planeten und vielen Jahren, die ich als Geologe im südafrikanischen Busch gearbeitet habe" resümiert Roger Ballen, "ist es für mich ziemlich offensichtlich, dass das Verhältnis zwischen Menschen und Tieren keineswegs harmonisch ist."
In seinem Video "Asylum for the Birds" zeigt Ballen ein Haus, in dem Menschen und Vögel in verstörender Koexistenz leben.
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