Fotograf Steve McCurry "Es braucht Poesie, um Elend zu vermitteln"

Steve McCurry
Steve McCurry wurde 1950 in Philadelphia geboren. Bekanntheit erlangte er 1980 mit einer Fotoreportage über den Einmarsch sowjetischer Soldaten in Afghanistan. McCurry gewann viele internationale Preise, u.a. die Robert Capa Gold Medal. Die Bilder seines aktuellen Buches "From These Hands" sind bis zum 30. Oktober in der Hamburger Flo Peters Gallery zu sehen.
SPIEGEL ONLINE: Herr McCurry, warum sehen Krisengebiete auf Ihren Fotos so schön aus?
McCurry: Jeder fotografiert aus seiner eigenen Perspektive. Und das ist meine.
SPIEGEL ONLINE: Afghanistan, Irak, Syrien. Sie haben all die Länder bereist, aus denen jetzt Flüchtlinge nach Europa kommen. Haben Sie nicht manchmal Angst, ein falsches Bild zu vermitteln?
McCurry: Wenn ich mittags in einem Flüchtlingscamp in Jordanien bin, ist das Licht draußen sehr stark und in den Zelten weich. Dann muss ich mich entscheiden, ob ich das harte Licht draußen verwende, um die Härte der Situation zu zeigen, oder ob ich das weiche Licht nehme. Ich entscheide mich für letzteres. Aber beschönige ich dadurch etwas? Die Gesichter von Menschen erzählen einfach mehr von sich selbst, wenn das Licht weicher ist. Das ist meine Erzählweise. Andere nutzen die Härte des Lichts und wollen anders erzählen.
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie den anderen Weg jemals für sich ausprobiert?
McCurry: Nein.
SPIEGEL ONLINE: Warum nicht?
McCurry: Weil es nicht meiner ist. Ich habe unter unterschiedlichsten Bedingungen fotografiert, aber immer mit dem gleichen Anspruch an meine eigene Ästhetik. Das ist ein Instinkt, dem ich folge. Am 11. September 2001 war ich zufällig gerade in New York und fuhr nach dem Einsturz der Türme zum Ground Zero. Ich schoss Bilder von den Trümmern, Staub lag in der Luft und es gab an diesem Nachmittag ein wahnsinniges Licht. Später war ich beinah erschlagen von der Schönheit dieses Lichts auf den Bildern. Weil sie ein schreckliches Ereignis dokumentieren. Aber so habe ich 9/11 gesehen.
SPIEGEL ONLINE: Ist Reportagefotografie eine Gratwanderung zwischen Schönheit und Elend?
McCurry: Vor der Schönheit kommt die Mechanik - Belichtung, Entwicklung und Druck. Die will man als Fotograf herausfordern und beherrschen, um letztlich auf brillante Art und Weise mit Bildern zu kommunizieren. Es braucht diese Poesie, die das Elend erst vermittelt.
SPIEGEL ONLINE: Was antworten Sie jenen, die sagen, das Elend sei so nicht sichtbar?
McCurry: Ich akzeptiere die Kritiker der Ästhetisierung, aber ich richte mich nicht nach ihnen. Ich richte mich nur nach dem, was ich für ein gutes Foto halte. Sonst wäre es nicht mein Foto.
SPIEGEL ONLINE: Mit dem Porträt eines afghanischen Mädchens mit stechend grünen Augen haben Sie 1984 eine Ikone geschaffen. Warum ist gerade dieses Bild um die Welt gegangen?
McCurry: Man will ihre Geschichte erfahren. Ihr Gesicht ist ein klein wenig schmutzig, ihre Kleider zerrissen. Man kann schon auf die Idee kommen, dass sie ein Flüchtling ist. Da liegt auch irgendetwas Verstörendes in ihrem Gesicht. Doch sie strahlt gleichzeitig eine ungeheure Würde aus. Dieser direkte Blick. Damit identifizieren Betrachter sich. Weil das Mädchen eine Urkraft aller Menschen ausstrahlt: den Willen zu überleben.
SPIEGEL ONLINE: Wie viel Zeit haben Sie mit diesem Mädchen verbracht?
McCurry: Zwei Minuten.
SPIEGEL ONLINE: Wirklich?
McCurry: Na klar. Wie lang es dauert, ein Porträt zu machen, hat nichts mit Zeit zu tun, sondern mit der Chemie zwischen dem Fotografen und dem Fotografierten. Da entsteht Energie. Ich war so eingenommen von ihrer Ausstrahlung, dass ich besessen davon war, das Foto zu machen.
SPIEGEL ONLINE: Neben ihrer Stärke strahlt das Mädchen auch etwas Gebrochenes aus. Schaffen Sie mit Ihrer Kamera einen Zugang zu der Verletzlichkeit von Menschen?
McCurry: Das ist möglich. Man versucht mit der Kamera immer auch, etwas zu zeigen, was schwer in Worte zu fassen wäre. Die Widersprüchlichkeit der menschlichen Seele etwa oder der Gegensatz von Stärke und Schwäche. Mit dem afghanischen Mädchen damals habe ich kein Wort gesprochen. Ich dirigiere nicht, mache keine Ansagen, wie Menschen sich bewegen oder platzieren sollen. Ich nehme nur, was mir angeboten wird und was für eine Chemie entsteht. Es ist für mich bis heute ein mysteriöses Ereignis, wie Porträts entstehen.
SPIEGEL ONLINE: Im Englischen heißt es bezeichnenderweise, ein "Porträt zu nehmen", im Deutschen heißt es, ein "Porträt zu machen". Haben Sie manchmal das Gefühl, Sie würden ihrem Objekt - wie ein Dieb - etwas nehmen?
McCurry: Nein, wenn du ein Bild machst, folgst du deinen Ideen von Gestaltung. Ich habe niemals das Gefühl, jemandem etwas Intimes wegzunehmen, zumal ich bei Porträts ohnehin um Erlaubnis bitte.
SPIEGEL ONLINE: Zuletzt ging das Foto des auf der Flucht verunglückten Jungen Alan Kurdi um die Welt, wie er am Strand bei Bodrum von einem Polizisten geborgen wird - eine Situation, in der ein Fotograf nicht mehr um Erlaubnis fragen kann.
McCurry: Wir dürfen nicht davor zurückscheuen, den Jungen zu zeigen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir uns mit solchen Situationen konfrontieren müssen. Wir müssen wissen, dass so etwas passiert. Dieses Foto nicht zu zeigen, wäre Zensur. Es sind gerade solche Geschichten, die uns motivieren zu handeln.

Bild des verunglückten Aylan Kurdi: "Es nicht zu zeigen, wäre Zensur"
Foto: DHA/ APSPIEGEL ONLINE: Sehen Sie das Foto in einer Reihe mit dem Bild von Nick Út, das ein nacktes Mädchen nach einem Napalm-Angriff während des Vietnamkriegs 1972 zeigte?
McCurry: Ja, absolut. Das sind Bilder mit Macht zur Veränderung. Wenn man jetzt an den Vietnamkrieg zurückdenkt, kommen einem nur zwei, drei Fotos in Erinnerung. Nick Út hat das wichtigste davon gemacht. Es ist eine Ikone und es steht für Ungerechtigkeit im Allgemeinen.
SPIEGEL ONLINE: Viele Fotos, die in der Vergangenheit den World Press Photo Award gewonnen haben, bilden Tote ab, auch tote Kinder.
McCurry: Wohl zu Recht. Wenn ein unschuldiges Kind einer Situation wie dieser ausgesetzt ist, ist das noch trauriger, noch tiefgehender. Wir werden aufmerksamer, wollen mehr verstehen. Ein Foto ist statisch und entfaltet so eine ungeheure Macht. Es bleibt einfach da. Wir blicken es an und es brennt sich in unser Gehirn, anders als Videoaufnahmen. Die sind flüchtiger.
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie für sich selbst definiert, wie Sie mit dem Fotografieren von Toten umgehen?
McCurry: Dafür gibt es keine Regel, nur den eigenen Anstand. Man sollte sich in die Rolle des Opfers hineinversetzen und dessen Schicksal respektieren. Manchmal macht man ein Foto, manchmal lässt man es und nimmt Abstand. Das muss ich als Fotograf in jeder einzelnen Situation neu entscheiden. Das kann man nicht generalisieren.

Steve McCurry:
From these Hands: A Journey along the Coffee Trail
English Version
Phaidon; 128 Seiten; 38,95 Euro.
Buch bei Amazon: "From these Hands: A Journey along the Coffee Trail" von Steve McCurrySPIEGEL ONLINE: Es liegt in der Natur des Fotos, dass es einen Mangel an Kontext erzeugt. Man sieht manchmal ein krasses oder bewegendes Foto, kennt aber den Zusammenhang nicht.
McCurry: Ja, ein Bild braucht Einordnung. Die besten Bilder sind natürlich jene, die selbst die ganze Geschichte erzählen. Aber die meisten Fotos bedürfen einer weiteren Erklärung. Wir müssen schon wissen, ob wir auf Rassenunruhen in Selma, Alabama oder Südafrika blicken. Das verändert die Bedeutung des Bildes.
SPIEGEL ONLINE: In sozialen Netzwerken werden Fotos andauernd aus ihrem Kontext gerissen.
McCurry: Meine eigenen Bilder werden jeden Tag für irgendwelchen Kram verwendet, den ich nicht kontrollieren kann, um den ich mir aber auch keine Sorgen mache. Es ist mir die Zeit nicht wert, diesen Copy-Pastern hinterherzulaufen. Meine Bilder sind da draußen und dann wird eben auch manchmal Unfug damit getrieben.
SPIEGEL ONLINE: Auf Ihren Reisen sind Sie mit Schicksalen von Vertreibung, Krieg und Folter konfrontiert. Wie sehr wirkt das in Ihnen nach?
McCurry: Manchmal ist es zu viel. Aber wenn ein Chirurg während einer Operation einen Patienten verliert, sein Leben nicht retten kann, dann hört er auch nicht auf zu operieren. Der Chirurg muss am nächsten Tag wieder operieren. Und so ist es auch bei mir. Ich dokumentiere für ein großes Publikum, was in anderen Teilen der Welt passiert und empfinde das als eine Aufgabe, vor der ich großen Respekt habe.
SPIEGEL ONLINE: Finden Sie sich selbst manchmal in Situationen, in denen Sie lieber helfen würden, als zu fotografieren?
McCurry: Ja, in solchen Situationen war ich oft. Man besorgt Wasser, fährt jemanden irgendwo hin oder gibt auch mal Geld. Die Menschlichkeit kommt vor dem Bild.
SPIEGEL ONLINE: Würden nicht manche Pressefotografen zu Recht sagen, ihr Auftrag sei lediglich das Dokumentieren, nicht das Helfen?
McCurry: Kommt auf die Situation an. Wo ich arbeite, sind meistens schon Hilfsorganisationen im Einsatz. Aber wenn man dort kleine Wege findet, zu helfen, muss man das auch tun. Ich sage ja nicht, dass man die Kamera niederlegen soll. Aber wenn es um ein Leben geht? Es wäre verrückt, zu sagen, hey, ich bin nur der Fotograf und das Bild ist großartig.
SPIEGEL ONLINE: Was war die größte Gefahr, der Sie sich für ein Foto ausgesetzt haben?
McCurry: Im beschaulichen Slowenien bin ich mit einem Ultraleichtflugzeug abgestürzt, in einen See, und wäre dabei beinahe ums Leben gekommen. Da ist man quer durch Afghanistan marschiert und stirbt fast an einem sonnigen Nachmittag bei Landschaftsaufnahmen.
SPIEGEL ONLINE: Landschaftsaufnahmen? Sie? Keine Gesichter?
McCurry: Das habe ich früher oft gemacht. Luftbilder aus Helikoptern oder Kleinflugzeugen machen mir aber wirklich keinen Spaß.

Ulf Pape lebt und arbeitet als freier Autor in Hamburg und ist Chefredakteur des unabhängigen "FALL"-Magazins, das zweimal jährlich erscheint. Die kommende Ausgabe befasst sich mit dem Thema Provinz."FALL"-Magazin