Fotolegende Martin Parr "Ich lüge wenigstens nicht"

Dicke Deutsche, sonnenverbrannte Briten, Amerikanerinnen mit Facelifting: Kein Fotograf entlarvt nationale Ticks so gemein wie Martin Parr. Im SPIEGEL-ONLINE-Interview spricht der Magnum-Fotograf über seine Sammlung von Saddam-Hussein-Uhren - und die Verrücktheiten der Münchner.

SPIEGEL ONLINE: Herr Parr, Sie fotografieren mit Vorliebe eher hässliche Motive wie schwitzende Menschen an vermüllten Stränden und dicke reiche Frauen in zu engen Kleidern. Woher wissen Sie, was ein gutes Bild ist?

Parr: Ich suche die Bilder aus, an die ich glaube. Ich entscheide immer sofort, welche Fotos die besten sind. Es gibt dafür keine Regeln. Ich könnte versuchen, diesen Vorgang mehr schlecht als recht zu analysieren. Aber am Ende ist es doch ein intuitiver Prozess.

SPIEGEL ONLINE: Ihre Bilder sind sehr entlarvend, sehr ironisch und oft sehr gemein. Hat Ihnen die digitale Technik dabei geholfen, Ihren humorvollen Stil weiterzuentwickeln?

Parr: Ich benutze fast ausschließlich Digitalkameras. Das Gute an der digitalen Fotografie ist, dass man sofort sieht, was man tut. Ich kann zum Beispiel Blitzlicht mit natürlichem Licht mischen, da ist es ein großer Vorteil, sofort zu wissen, ob das funktioniert.

SPIEGEL ONLINE: Durch die Inflation der digitalen Fotografie wurde der professionelle Markt mit Amateurfotografien überschwemmt. Sehen Sie darin ein Problem?

Parr: Amateurfotograf zu sein, bedeutet, dass man Bilder macht, weil man die Fotografie wirklich liebt, und nicht nur deshalb, um damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Auch ich bin ein gut bezahlter Amateur, wenn Sie so wollen.

SPIEGEL ONLINE: In Ihrer aktuellen Münchner Ausstellung "Parrworld" zeigen Sie hauptsächlich Ihre Sammlung skurriler Objekte, und nur wenige Fotos. Trauen Sie Ihren Bildern alleine eine so große museale Präsentation nicht zu?

Parr: Ich mag die Idee, in der Ausstellung meine Sammlung von Postkarten, Büchern und Objekten neben meinen eigenen Bildern zu zeigen. Fotografieren ist für mich nur eine andere Art des Sammelns. Für mich gibt es da viele Überlappungen.

SPIEGEL ONLINE: Sie vergrößern Ihre Sammlung ständig, welche Eigenschaften muss ein Objekt haben, damit Sie es haben wollen?

Parr: Ich sammle Dinge, die spiegeln, was in der Welt vor sich geht. Ich habe zum Beispiel viele Osama-Bin-Laden- und Saddam-Hussein-Devotionalien gesammelt. Nicht nur aus der arabischen Welt, sondern auch aus den USA, wo mit diesen Figuren alle Arten von perversen Scherzen getrieben wurden.

SPIEGEL ONLINE: Sie haben mal gesagt, Ihre Bilder und Ihre Sammlung seien so etwas wie ein Selbstporträt. Können Sie das erklären?

Parr: Das hängt damit zusammen, wie ich mich selbst definiere. Wenn ich fotografiere, ist das zum Teil auch ein therapeutischer Prozess - genau, wie wenn ich sammle. Außerdem denke ich mir oft: Wenn ich das nicht aufhebe und konserviere, dann tut das keiner und das wäre sehr schade. Ich kenne zumindest niemanden, der 80 Saddam-Uhren besitzt. Dabei sagt allein die Tatsache, dass es diese Uhren gibt, enorm viel über die Persönlichkeit, die Saddam Hussein war, aus.

SPIEGEL ONLINE: Über Saddam vielleicht schon, aber was sagt es darüber aus, was für ein Mensch Sie sind?

Parr: Die Tatsache, dass ich so was sammle, zeigt, dass ich eine gewisse Sensibilität besitze, die die Leute - hoffentlich! - interessant finden.

SPIEGEL ONLINE: Sie zeigen in "Parrworld" auch erstmals Ihre neueste Fotoserie "Luxury", in der sie Superreiche aus aller Welt porträtieren. Es scheint, als hätten Sie sich im Laufe Ihrer Karriere mit Serien "Last Resort" oder "Cost of Living" von der Unterschicht über die Mittelschicht bis zur Oberschicht hochgearbeitet.

Parr: Traditionell dokumentieren Fotojournalisten meist die Armut auf der Welt, weil sie als das wichtigste Thema unserer Zeit gilt. Doch ich denke, dass heute nicht mehr die Armut das Hauptproblem ist, sondern der Reichtum. Es herrschen einfach zu viel Wachstum und Wohlstand. Ich war gerade auf der Pekinger Automesse, wo es komplett verrückt zuging. Alleine in China werden dieses Jahr neun Millionen Autos verkauft werden! Die Tatsache, dass rasant wachsende Länder wie China und Indien dieselben materiellen Dinge für sich beanspruchen, die hier im Westen schon lange selbstverständlich sind, übt einen enormen Druck auf die Welt aus.

SPIEGEL ONLINE: Gönnen Sie den Schwellenländern den wachsenden Wohlstand etwa nicht?

Parr: Natürlich! Es ist ja klar, dass diejenigen, die sich endlich das erste Auto ihres Lebens leisten können, nicht an Umweltschutz denken. Das ist unsere westliche Arroganz, dass wir immer noch denken, wir hätten den hohen Standard gepachtet und er würde anderen nicht zustehen. In meinen Bilder zeige ich diese Entwicklung aber nicht als politisches Statement, ich verpacke meine Anliegen lieber unterhaltsam, indem ich Menschen zeige, die es genießen, mit ihrem Reichtum anzugeben.

SPIEGEL ONLINE: Ich nehme an, Sie beobachten Ihre Umwelt ununterbrochen?

Parr: Es gibt nichts Komischeres, Schöneres, und auch Gruseligeres, als Menschen zu beobachten. Ich könnte zum Beispiel Jahre in München verbringen, es gibt so viel Material hier. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.

SPIEGEL ONLINE: Sie sagen, die Art und Weise, wie Fotografie in den Medien verwendet wird, sei Propaganda. Tragen Sie nicht selbst einen Teil dazu bei?

Parr: Wir sind so daran gewöhnt, dauernd Bilder zu verdauen, die pure Propaganda sind, dass die Leute überrascht sind, wenn jemand wie ich Bilder zeigt, die eng mit der Realität verbunden sind. Ich lüge wenigstens nicht.

SPIEGEL ONLINE: Aber Sie sind Teil der Bilder produzierenden Maschinerie.

Parr: Natürlich, ich mache viele kommerzielle Sachen, auch Werbung. Also mache ich auch Propaganda. Aber bei mir liegen die Dinge klar auf dem Tisch: Ich nehme viel Geld dafür, dass ich Bilder liefere, die die Unternehmen wollen. Da existiert keine Grauzone. Aber in anderen Fällen ist das oft nicht klar. Man weiß einfach nicht, was die Wahrheit und was Propaganda ist.

SPIEGEL ONLINE: Sehen Sie eine Möglichkeit, diese Entwicklung zu stoppen?

Parr: Nein, das wird nie aufhören. Allein die Tatsache, dass die Presse immer mehr in Richtung Promi-Berichterstattung geht und einen immer größeren Eskapismus pflegt, macht es noch schlimmer. Fotografen wie ich, die versuchen, die Welt zu zeigen, wie sie wirklich ist, haben es da zunehmend schwerer. Deshalb versuche ich auch, die reale Welt so interessant wie möglich aussehen zu lassen und fotografiere Veranstaltungen wie die Pekinger Automesse, weil man dort unglaubliche Szenen beobachten kann, wie Chinesen Autos buchstäblich anbeten.

SPIEGEL ONLINE: Würden Sie sich als politischen Fotografen bezeichnen?

Parr: Wenn man sie sehen will, steckt in meinen Arbeiten immer eine tiefere politische Botschaft. Es gibt diesen Trend, eher biedere und ernste Schwarzweiß-Bilder zu zeigen, die die Leute nur abschrecken. Das interessiert mich nicht.

SPIEGEL ONLINE: Bayern trinken Bier, Briten braten krebsrot in der Sonne. Warum spielen Klischees so eine große Rollen in Ihren Bildern?

Parr: Die Welt wird von Klischees bestimmt. Deshalb sind sie oft mein Ausgangspunkt.

SPIEGEL ONLINE: Andererseits beharren Sie darauf, die Wirklichkeit zeigen zu wollen. Sind Klischees denn real?

Parr: Klischees werden aus dem einfachen Grund zu Klischees, weil sie wahr sind. Deshalb gehe ich gerne zu Veranstaltungen wie dem Münchner Oktoberfest. Ich habe festgestellt, dass immer mehr Menschen dort Dirndl und Lederhosen tragen. Sie bemühen sich also darum, immer mehr wie das Klischee ihrer selbst auszusehen. Das ist doch interessant!

SPIEGEL ONLINE: Herr Parr, wir müssen leider aufhören, unsere Zeit ist um.

Parr: Unglaublich, Sie haben den Zeitrahmen perfekt eingehalten!

SPIEGEL ONLINE: Wissen Sie, in Deutschland ist das so üblich …

Parr: Sehen Sie, das Klischee von der Pünktlichkeit der Deutschen bestätigt sich wieder einmal. Ich liebe die Effizienz der Deutschen!

Das Interview führte Jenny Hoch


Martin Parr: "Parrworld", Haus der Kunst, München, 7. Mai bis 17. August 2008.

Kataloge: Martin Parr: "Objects", Chris Boot Ltd, 176 Seiten, 35 Euro, "Postcards", Chris Boot LTD, 336 Seiten, 48 Euro.

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