Debatte über WM-Boykott "Warum fällt ihr Deutschen immer so schnell eure Urteile?"

Russischer Rockmusiker Jurij Schewtschuk bei einer Demonstration in Moskau (Archiv)
Foto: Sergey Ponomarev/ APWie umgehen mit Russland, diesem schwierigen WM-Gastgeber? Hinfahren - oder doch besser das ganze Treiben aus der Ferne verfolgen, aus auch moralisch sicherer Distanz?
Europa hat auch wenige Tage vor dem ersten Anstoß keine einheitliche Linie gefunden. Kanzlerin Angela Merkel ("Kann gut sein") würde ganz gerne zu den Spielen reisen. 60 Europaabgeordnete hingegen fordern - angeführt von der Grünen Rebecca Harms - einen vollständigen politischen Boykott. Den hat London bereits verkündet, Mitglieder der britischen Regierung sollen sich den Spielen fernhalten. Außenminister Boris Johnson sagt, das Turnier löse bei ihm "Brechreiz" aus.
In Russland kommt das nicht gut an, selbst bei Kritikern des Kremls. Jurij Schewtschuk, 61, ist der bekannteste Rockmusiker des Landes. Der sowjetische Geheimdienst KGB hat ihn in den Achtzigern wegen seiner Lieder verhört, in den Neunzigern spielte er Konzerte vor Hunderttausenden. Der Auftritt aber, mit dem Schewtschuk am meisten Aufmerksamkeit erregte, hatte nichts mit Musik zu tun: 2010 lieferte er sich vor laufenden Kameras ein Rededuell mit Wladimir Putin.
Mit am Tisch saßen Größen der russischen Kulturszene. Jeder Gast brachte ein Anliegen vor. Schewtschuk fragte nach der Pressefreiheit. Das war der Auftakt für 15 Minuten hitzige Debatte.

Schewtschuk bei einem Konzert seiner Band DDT (2017)
Foto: imago/ ITAR-TASSWährend der WM spielt Schewtschuk mit seiner Band DDT in der Fanzone, jetzt aber ist er noch auf Europatournee - und macht gerade Halt in einem kleinen Hotel am Ku'damm in Berlin.
SPIEGEL ONLINE: Herr Schewtschuk, wie sollte Europa mit Russland umgehen, wie mit der WM?
Juri Schewtschuk: Ihr Deutschen habt natürlich nicht recht, wenn ihr Angst habt, zu uns zu reisen. In Berlin, London oder Paris gibt es viel gefährlichere Ecken als bei uns. Ich erkläre also im vollen Bewusstsein meiner Verantwortung: Bei uns ist es in dieser Hinsicht sicher. Kommt her, ihr Deutschen, ich lade euch alle ein!
SPIEGEL ONLINE: Bei uns dreht sich die Diskussion weniger um die Sicherheitsfrage. Es geht darum, ob man die Spiele nicht besser aus politischen Gründen boykottieren sollte.
Schewtschuk antwortet mit einem Exkurs über Sankt Petersburg, seine Wahlheimat seit ihn der KGB in den Achtzigern aus Ufa im Ural verscheucht hat. Seine Wohnung liegt im historischen Zentrum, nahe des Ufers der Fontanka, sein Tonstudio ist 15 Fußminuten entfernt in der "4. Sowjetischen Straße". Dazwischen, erzählt er, liegt die Baskow-Gasse. Dort wuchs Putin auf, ein Kind der Sowjetunion. Wenige Blöcke entfernt wiederum sei aber auch der sowjetische Schriftsteller und Dissident Josef Brodsky groß geworden.

Sankt Petersburg in Russland: Streifzug durch die Stadt der Kontraste
Schewtschuk: Das dürft ihr also nicht vergessen: So ist Russland. Hier entwickeln sich gleichzeitig völlig gegenläufige Dinge und sehr unterschiedliche Menschen. Hier gibt es immer zwei Möglichkeiten.
SPIEGEL ONLINE: Russland schottet sich doch seit Jahren ab. Warum ein Land besuchen, das ständig Furcht vor ausländischen Agenten zu haben scheint?
Schewtschuk: Klar, wir haben diese Freaks, die Europa beschimpfen. Die nehmen einen Bruchteil der Realität und blasen ihn auf, als sei es das ganze Bild. Dieses fragmentarische Denken ist bei uns leider sehr weit verbreitet. Aber ihr Deutschen seid doch klüger! Bei uns hat sich eine fantastische Generation entwickelt, unsere kreative Jugend, von denen sprechen viele inzwischen Englisch.
SPIEGEL ONLINE: Es wirkt eher so, als könnte Russland wieder in den Autoritarismus abgleiten.
Schewtschuk: Ihr Deutschen habt es immer so eilig, eure Urteile zu fällen über Russland. Ihr kennt die Geschichte schlecht. In Russland wurden liberale Ideen, anders als im Westen, noch nie auf breiter Front begrüßt. Die Leute haben sich auch nie besonders für Politik interessiert. Für die soziale Frage, ja, die soziale Ungerechtigkeit treibt die Leute um. Aber nicht die Politik. All das ändert sich nur sehr langsam. Es dauert, Hirne und Herzen zu verändern. Russland war einfach noch nie in seiner Geschichte eine Demokratie. Klar, in den Neunzigern wurde an jeder Ecke über Demokratie gesprochen, aber das Volk war ja nicht blöd: Es hat gesehen, wie ein winziger Teil der Bevölkerung sich all das Vermögen unter den Nagel riss, das wir und unsere Vorfahren gemeinsam erarbeitet hatten.
Der Sänger spielt auf die Präsidentschaft von Putins Vorgänger Boris Jelzin (1991- 1999) an, die in Russland viel kritischer gesehen wird als im Ausland. Damals wurde eine kleine Bevölkerungsgruppe in kurzer Zeit sehr reich, zum Teil durch offenbar fingierte Versteigerungen von Staatsbetrieben. Als Jelzin 1996 die Macht an die Kommunisten zu verlieren drohte, finanzierten die Milliardäre ihm einen spektakulären Wahlkampf, beraten von amerikanischen PR-Spezialisten. Jelzin siegte im zweiten Wahlgang mit 53 Prozent - obwohl er im Februar in Umfragen bei gerade einmal drei Prozent gelegen hatte.
SPIEGEL ONLINE: Die WM ist ein Prestigeprojekt des Kreml. Stärkt ein gelungenes Turnier mit vielen Touristen und ausländischen Politikern nicht vor allem Putin?
Schewtschuk: Das ist zu kurz gedacht. Wenn man auf Russland Druck ausübt, verstärkt das nur unsere konservative Solidarisierung, die Leute hier werden noch verbissener. Klar, bei uns bändeln sie jetzt mit diesem Militarismus an. Dagegen hilft nur, sich den Menschen aufmerksamer zuzuwenden.

Schewtschuk-Porträt eines Fans aus Herbstlaub (2016)
Foto: imago/ ITAR-TASSSPIEGEL ONLINE: Was müsste sich ändern, damit das in Zukunft besser gelingt?
Schewtschuk: Als die Berliner Mauer 1989 gefallen ist, waren wir sicher: Sie gehört nun für immer der Vergangenheit an. Inzwischen wissen wir, das hat nicht gestimmt. Da ist immer noch eine Mauer zwischen Ost und West. Man sieht sie nicht, sie ist aus Glas, aber sie existiert. Wir und ihr, wir alle können bis heute nicht aus den Schatten unserer Vergangenheit hervorkriechen. Wir alle leben noch immer in diesen Schatten, den alten gegenseitigen Vorstellungen von Russland und Europa.
SPIEGEL ONLINE: Geben Sie uns doch mal eine kurze Gebrauchsanweisung, wie man Russland verstehen soll.
Schewtschuk: Das russische Volk ist nicht rational, es ist idealistisch. Das macht es für einige unserer Nachbarn echt schwierig. Wir balancieren immer auf einer Rasierklinge: Wir fürchten in einem Moment den Sturz in den Abgrund und sind im nächsten davon überzeugt, nur das russische Volk werde eines Tages die Menschheit retten können. Zwischen Liebe und Hass ist bei uns immer nur ein Schritt. In den Neunzigerjahren war auf jedem zweiten Hintern eine US-Fahne, auf der Jeans. Wenn wir einmal an etwas glauben, dann reißt es uns mit.
SPIEGEL ONLINE: Woher kommt das?
Schewtschuk: Ich möchte nicht falsch verstanden werden: Ich glaube nicht an einen russischen Sonderweg. Aber die Welt, in der wir aufgewachsen sind, hat unser Denken geprägt. Bei uns war alles immer unkonkret, amorph. Dem Volk gehörte alles und gleichzeitig gehörte ihm nichts. Gas und Öl gehören uns - und gehören uns auch wieder nicht. Dann sind da diese verrückten Distanzen, die Verlassenheit des Menschen in grenzenloser Natur. Natürlich prägt das die Eigenschaften eines Volkes. Man muss hier auch erst mal an unserer Stelle stehen, an der Schwelle zwischen Europa und Asien - und keinen Schnupfen bekommen von dem Durchzug!
Das russische Meinungsforschungsinstitut Fom untersuchte vor einigen Jahren, wie groß der Rückhalt der bekanntesten Putin-Kritiker in der Bevölkerung ist. Ein Großteil der Befragten gab an, von den meisten Oppositionellen wenig gehört zu haben, und wenn, dann nichts Gutes. Mit einer Ausnahme: Beim Sänger Schewtschuk gaben nur vier Prozent an, über ihn schlecht zu denken.
Sein Einfluss ist trotzdem begrenzt. Vor ein paar Jahren - die Krim war noch ukrainisch - hat ein bekannter konservativer Agitator dem Liberalen Schewtschuk vorgeworfen, der Sänger preise stets die Friedfertigkeit des Westens. Über den Irakkrieg verliere er aber ebenso wenig ein Wort wie über die Versuche der USA, Russlands Einfluss auf die Nachbarstaaten zurückzudrängen. "Was schlagen Sie denn vor?", antwortete Schewtschuk. "Sie führen die Leute in den Krieg, das ist Ihre Alternative. Sollen wir etwa Krieg in der Ukraine führen?"

Putin, Schewtschuk (rechter Bildrand) bei dem Zusammentreffen 2010
Foto: imagoEs gibt auf YouTube einen Mitschnitt von Schewtschuks Streitgespräch mit Putin. Es ist zu sehen, wie neben dem Musiker ein Schauspieler die Hände vor das Gesicht schlägt, während Schewtschuk Putin vorwirft, ein "finsteres, korruptes und totalitäres Land" zu schaffen. Unter dem Tisch versucht jemand verzweifelt, Schewtschuk auf den Fuß zu treten, damit er aufhört.
Nach dem Treffen bekam der Sänger eine Einladung in den US-Kongress, in dem russische Oppositionelle häufig Vorträge halten. Schewtschuk hat abgelehnt, weil er findet, "dass man einen Streit nicht aus der Hütte hinausträgt".
Beim Treffen stellt Schewtschuk Musik an, das Lied, das wir hören, hat er "Russischer Frühling" genannt. So haben die russischen Spin-Doktoren 2014 den patriotischen Taumel getauft, der nach der Annexion der Krim das Land erfasste. Es ist ein Song über die Tragödie eines Landes, das seine Kräfte mobilisiert hat, um in eine Sackgasse zu marschieren.
Russischer Frühling
Graues Zwielicht, eine Lagerbaracke
Was kann uns versöhnen, wie können wir zusammen sein?
Wie sollen diesen Frühling du und ich nur überleben?
"Nein", sagt Schewtschuk zum Abschied, "das Lied werden sie bei uns nicht im Radio spielen."