Gedenkfeier-Boykott "Wir wollen wenigstens in der VIP-Lounge sitzen"

Der Zentralrat der Juden boykottiert die Gedenkfeier für die Opfer des Nationalsozialismus im Bundestag - weil er sich missachtet fühlt. Der Protest ist richtig, die Begründung lächerlich: Ein offener Brief von Henryk M. Broder an Generalsekretär Stephan J. Kramer.

Lieber Stephan,

ich sitze gerade bei Sprüngli in Zürich und lese auf SPIEGEL ONLINE, dass kein Vertreter des Zentralrates der Juden an der diesjährigen Gedenkfeier zu Ehren der Holocaustopfer teilgenommen hat. Das ist endlich einmal eine gute Nachricht aus der deutschen Sektion der "Weisen von Zion", nachdem man in den letzten Wochen und Monaten den Eindruck gewinnen konnte, dass bei Euch nicht immer sehr weise überlegt und gehandelt, sondern nur hektisch und kopflos reagiert wurde.

Zum Beispiel als die Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg und Niedersachen, Oettinger und Wulff, von Dir zum Rücktritt aufgefordert wurden, weil sie sich ein wenig daneben benommen beziehungsweise Unsinn geredet hatten. Solche Forderungen erhebt man nur, wenn es zumindest eine fünfzigprozentige Chance gibt, dass man sie durchsetzen kann - es sei denn, man will sich unbedingt lächerlich machen.

Die schlechte Nachricht ist Deine Begründung für die Nichtteilnahme der Vertreter des Zentralrates an der diesjährigen Holocaust-Feier. Als Grund hast Du die Erfahrungen der letzten Jahre angeführt: Die Vertreter des Zentralrats, die auf der Zuschauertribüne Platz genommen hatten, seien nie persönlich begrüßt worden. Ja, das ist in der Tat eine Kränkung, die man nicht hinnehmen kann. Sogar meine Mutter, die irgendwann im Jahre 1944 in Auschwitz ankam, ist persönlich begrüßt worden. Weniger kann man auch im Jahre 64 nach der Befreiung nicht erwarten.

Sag mal Stephan, wie lange hast du an dieser Begründung gearbeitet und gefeilt? Hast du zwischendurch gekichert oder laut aufgelacht? Ist es Dir bewusst, dass du eine wunderbare Pointe produziert hast, einen "sick joke", mit dem Du die Brücke von der Tragödie zur Farce schlägst?

George Tabori hat immer wieder eine Anekdote erzählt, die fast genauso gut war. Als sein Vater zur Gaskammer ging, soll er an der Tür stehengeblieben sein und zu einem Weggefährten neben ihm gesagt haben: "Nach Ihnen, Herr Kohn." Ich bin sicher, der gute Tabori hat sich diese Geschichte ausgedacht, aber in einem höheren Sinn ist sie leider wahr: Bis zum letzten Moment legten die Juden Wert auf gutes Benehmen.

So gesehen, kann ich die Enttäuschung unserer Repräsentanten nachvollziehen, die gerne persönlich und namentlich begrüßt werden möchten. Wenn wir schon bereit sind, "unseren" Holocaust mit anderen zu teilen, wollen wir diesmal wenigstens in der VIP-Loge sitzen und nicht irgendwo am Ende des Ganges.

Freilich: Es ist nicht "unser" Holocaust. Wenn es ein Paket gewesen wäre, hätten unsere Eltern und Großeltern die Annahme verweigern können. Aber diese Option hatten sie nicht. Heute dagegen liegen die Dinge anders. "Wir" können sagen: "Vielen Dank, ohne uns, macht Euren Holocaust alleine!"

Ich habe nie verstanden, warum die Vertreter des Zentralrates landauf, landab an jeder Gedenkfeier teilnehmen, sei es die Einweihung des überflüssigsten Mega-Mahnmals aller Zeiten in Berlin, sei es eine Gedenkstunde im Bundestag oder irgendeine Feier in der Provinz zur Erinnerung an das gute Verhältnis zwischen christlichen und jüdischen Viehhändlern. Wäre der Zentralrat nicht eine Interessenvertretung der Juden, sondern eine Firma, bei der man Juden für alle möglichen Anlässe buchen kann ("Rent A Jew"), wäre so ein Verhalten normal. Anormal aber ist, wenn sich Juden als Therapeuten anbieten, um den Nichtjuden bei der Bewältigung ihrer Holocaust-Traumata zu helfen.

"Jetzt seid ihr dran. Nun macht mal schön"

Wenn die Nachkommen der Täter an die Opfer des Holocaust erinnern wollen, dann ist das sehr ehrenwert. Es spricht für "die Deutschen", dass sie sich mit ihrer Geschichte mehr auseinandersetzen als jedes andere Volk in Europa. Aber sie haben auch mehr Anlass dazu. "Die Juden" haben ihren Beitrag zum Holocaust bereits geleistet. Sie könnten sich ganz entspannt zurücklehnen und sagen: "Jetzt seid ihr dran. Nun macht mal schön."

Dass sie es nicht tun, dass sie auf jeder After-Show-Party mittanzen, ist ein Zeichen von Charakterschwäche. Es ist, als ob die Kinder und Enkelkinder einer vergewaltigten Frau sich mit den Kindern und Enkelkindern des Vergewaltigers jedes Jahr zu einer Familienfeier an Opas Todestag treffen würden.

Es gäbe noch einen anderen guten Grund, die Teilnahme an den Exerzitien des Gedenkens zu verweigern. Du selbst erwähnst den wachsenden Antisemitismus, der sich in einer steigenden Anzahl von Hass-Mails an den Zentralrat artikuliert. Wenn das alles wäre, müsste man sich keine Sorgen machen.

Schlimmer ist, dass man in Deutschland den letzten Holocaust nachträglich verhindern möchte ("Wehret den Anfängen!" "Nie wieder '33!"), ohne sich dabei die gute Laune von einem möglichen nächsten Holocaust verderben zu lassen, der sich am Horizont abzeichnet. Egal, wie klar, eindeutig und unmissverständlich der iranische Präsident das baldige Ende Israels verkündet, man will seine Drohungen in Deutschland nicht ernst nehmen und tut sie als politische Rhetorik für den Hausgebrauch ab.

Orientexperten wie Professor Udo Steinbach behaupten, Israel würde den Iran bedrohen und nicht umgekehrt, während die Papp-Kameraden von der Antifa sich über "Übersetzungsfehler" zu Lasten des iranischen Präsidenten aufregen, der Israel nicht "von der Landkarte" ausradieren, sondern nur "aus den Annalen der Geschichte" tilgen möchte, was nur Böswillige als eine Drohung missverstehen könnten.

Wohlfeile Übungen des schlechten Gewissens

Während die Haltung der Kanzlerin eindeutig ist, boomt der deutsch-iranische Handel, fahren das Berliner Ensemble und die Osnabrücker Symphoniker nach Teheran, sind iranische Politiker, wie kürzlich Ajatollah Chatami in Freiburg und Mohammed Larijani in Berlin, gern gesehene Gäste, denen man keine kritischen Fragen stellen mag.

Zwischendurch wird ein wenig um die toten Juden getrauert, und dann geht's weiter - in den Medien und auf der Straße - gegen die "zionistischen Faschisten", die völlig "unverhältnismäßig" gegen den Beschuss mit "selbst gebastelten" Raketen reagieren, statt sich höflich aus der Geschichte zu verabschieden.

Das, lieber Stephan, wären lauter Gründe, die Teilnahme an den Gedenkfeiern zu verweigern. Sie sind wohlfeile Übungen des schlechten Gewissens, retroaktive Ablassrituale, die nichts mit der Gegenwart und der Wirklichkeit zu tun haben.

Im Übrigen könnte man mit dem Trauern langsam aufhören. Heute vor 64 Jahren wurde Auschwitz befreit. Nur deswegen kann ich heute bei Sprüngli am Paradeplatz sitzen. Die Cru Sauvage aus 72-prozentigem Cacao, mit frischem Rahm verfeinert, zarter, dunkler Chocolade umhüllt und mit einem Hauch von Cacao-Pulver bestäubt, sind großartig. Mutter Broder wäre begeistert.

Dein Henryk

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