"Gelbwesten"-Proteste Absage an eine Gesellschaft

Gelbwesten-Demonstranten in Bordeaux
Foto: NICOLAS TUCAT/ AFPEnde Oktober fand in Grenoble eine Demonstration statt, bei der die Teilnehmer gelbe Warnwesten trugen. Es waren etwa hundert Radfahrer, die gegen Jäger demonstrierten. In den Tagen zuvor hatte es einen Jagdunfall gegeben. Sonntags zumindest sollte im Wald nicht gejagt werden dürfen, so ihre Forderung. Sie trugen Warnwesten, aber Teil der Bewegung der "gilets jaunes" waren sie darum nicht. Niemand kannte vor sechs Wochen diesen Begriff in einem politischen Kontext.
Heute kennt ihn die ganze Welt. Die Bewegung hat Frankreich verändert, Europa fasziniert und noch immer kann man sich keinen Reim darauf machen. So schnell das Phänomen in unser Bewusstsein rückte, plötzlich alle Medien dominierte, so lange und leise kündigte es sich an.
Zu Beginn der Neunziger unternahm der französische Soziologe Pierre Bourdieu mit einigen Doktoranden Ausflüge in die Provinz. Sie trafen verzweifelte Arbeitslose, überforderte Beamte und Frauen von der Post auf Nachtschicht. Sie besuchten Neubaugebiete, in denen unglückliche Kleinfamilien feststellen mussten, dass man ihnen vor allem den Kredit verkauft, das Haus hingegen Billigware voller Mängel war.
Frankreich dehnte sich aus, aber die Menschen lebten isoliert, ohne Bus oder Bahn, Institutionen des öffentlichen Dienstes wurden wegrationalisiert. Die Entlohnung war bescheiden und die Anerkennung auch. Aus solchen Geschichten entstand "Das Elend der Welt" - eine Sammlung von Porträts aus dem hoffnungslosen Frankreich, die sich kaum unterschieden von dem, was heute die Männer und Frauen in gelber Weste beklagen, wenn eine Kamera kommt.

Emmanuel Macron
Foto: FRENCH POOL / TF1Aber ergeben so viele Schicksale eine Bewegung? Ist der Ausdruck von Verzweiflung politisch? Ist Macron an allem schuld? Oder muss man genauer hinsehen?
Es begann mit dem Auto. Die Erhöhung des Diesel-Preises um fast ein Viertel über ein Jahr schnürte den Leuten die Luft ab. Mobilität ist so ziemlich das Einzige, was ihnen geblieben ist. Wenn man in Frankreich arbeitslos wird, bleibt man es lange. Kirche und Armee nahmen früher jeden, und auch wenn man deren Erosion begrüßt - nichts trat an deren Stelle für solche, die nicht sehr gebildet, nicht sehr reich und nicht besonders ambitioniert sind. Die sich des Lebens freuen möchten und schauen, woher Respekt, Anerkennung und Unterstützung kommen könnten.
Das Wohnviertel, das Dorf und die Milieus waren traditionell wichtig, aber auch die Provinzen litten unter dem, was der Schriftsteller Marc Weitzmann einen "sadistischen Urbanismus" nennt: Umbenennungen, Gebietsreformen, isolierte Gewerbegebiete - und höllische Siedlungen, selbst auf dem Land.
Das Auto wurde für sehr viele zur einzigen Möglichkeit, an der Gesellschaft teilzunehmen. Der Bürger wurde reduziert auf seine Rolle als Verkehrsteilnehmer - hier noch Zugeständnisse machen zu müssen, das war dann zu viel.

"Gelbwesten": Wasserwerfer und Tränengas
Es wurde aus zwei Gründen ein Protest gegen Macron: Einmal, weil er sehr viele Hoffnungen geweckt hatte, sein Wahlkampfbuch trug den Titel "Revolution" - aber an der Drangsal der Menschen änderte sich erst einmal nichts. Und zum zweiten, weil der Nationalstaat mit Pomp und Palästen nun mal dazu einlädt, allen Frust gegen die Spitze zu richten. Der Élysée-Palast ist der nationale Blitzableiter. Gäbe es eine Grippewelle, würde sich Frankreich sich auch irgendwann an den Präsidenten wenden, damit er was macht.
Das Besondere dieses Mal ist, dass sonst niemand mehr da ist. Viele rechte Kräfte haben sich in der Bewegung der "gilets jaunes" breitgemacht, auch andere Populisten. Aber die jeweiligen Parteien haben daraus keinen Gewinn gezogen. Die Protestierer sind nicht zu den Gewerkschaften, Verbänden oder Oppositionsparteien gezogen, um Hilfe zu organisieren. Einzig die Bürgermeister werden noch akzeptiert.
Dieser Mangel an einer für das demokratische Spiel passenden Mannschaft schuf Freiräume, die von Chaoten, Plünderern und Sektierern genutzt wurden. Die sozialen Netzwerke produzierten den üblichen Unsinn, einige Politiker der Konservativen versuchten, die Wut irgendwie auf den Uno-Migrationspakt zu lenken.
Unendlich viel Sendezeit
Die "gilets jaunes" sind das perfekte Medienphänomen: Man kann etwas Revolutionsfolklore hineindeuten, nach Belieben personalisieren und viel Häme gegen Macron verbreiten. Gescheiterter Star, das lesen die Leute ja gern. Aber diese Deutungen verkennen die fundamentale, ja intime Dimension der Verzweiflung in Frankreich. Sie hat mit der Erkenntnis zu tun, dass der Nationalstaat nicht mehr viel, aber Europa noch lange nicht genug vermag, um normale Bürger zu fördern.
Darin steckt auch eine Medienkritik: Unendlich viel Sendezeit räumt das französische Fernsehen Politikerinnen und Politikern ein, die sich als wenig relevant erwiesen haben. Auch die nachholende Korrektur der macronschen Politik durch abgewählte Sozialisten oder Gaullisten verdrießt das Publikum. Der von ihm selbst lancierte Ruf des Volkes für eine Rückkehr von Nicolas Sarkozy, auch die Comeback-Gerüchte von François Hollande illustrieren nur eines: dass es so wie gehabt nicht mehr weitergeht.
Will man die "gilets jaunes" ernst nehmen, ist das ganze Land umzubauen und Europa auch. Es ist eine Absage an eine Gesellschaft, in der entweder Finanzkapital oder Bildungskapital über den Wert des Menschen entscheiden. Sicher, es geht um den Kontostand am Monatsende, aber auch um die damit einhergehende Würde als Bürger. Um eine Aufgabe im Zusammenhang mit der Belebung der Öffentlichkeit, der Demokratisierung der Provinzen und Europas. Nach den Dekaden des Primats der Ökonomie wird deutlich, dass auch die politische Rolle der und des Einzelnen lebenswichtig ist für eine Republik, für eine offene Gesellschaft.
Jeder Mittelständler weiß, dass seine Mitarbeiter sein Kapital sind, es ist eine Floskel jeder Betriebsfeier, und sie stimmt ja auch. In Europa hingegen scheinen Bürger suspekt, wie rostige Fässer hinten im Hof: Die Staaten sollen sich darum kümmern oder eher niemand. Die "gilets jaunes" können stolz sein auf die von Macron versprochenen zehn Milliarden, es ist gut angelegtes Geld.
Ihre Botschaft bleibt gültig: Wir sind eingeklemmt zwischen einer ineffektiven, folkloristischen Nationalpolitik, die dauernd im Fernsehen ist, aber zu wenig bewirkt - und einem fernen, nicht souveränen Europa. So geht es nicht weiter.