Georg Diez

S.P.O.N. - Der Kritiker Die Sucht nach Sinn

2014 war ein unsicheres Jahr, ein Jahr des Aufruhrs. Was wird dieses Jahr einmal gewesen sein? Was sagen die Bücher darüber? Der Rückblick.

War es ein hartes Jahr? War es doch ein gutes Jahr? War es ein Jahr voller Paranoia oder berechtigter Angst, und zeigten sich darin die Schemen der Zukunft, und war es das, was so viele erschreckte - oder waren die Kriege alt und die Seuchen und das Leiden auch, und ist das alles Teil einer Vergangenheit, von der das, was Bücher einmal sein werden, erzählt?

Sind wir also Gespenster? Sind wir Wilde, Verbrecher, Kannibalen? Sind wir Verschwörer, ohne es zu wissen, Verschwörer gegen uns oder gegen die Vernunft oder gegen die Zukunft? Wenn alles vorüber ist, was werden wir dann denken? Und: Was sagen die Bücher dieses Jahres darüber?

Was wird 2014 gewesen sein, aus dem Rückblick in 2000 Jahren, aus der Sicht der Maschinen, die uns beherrschen werden, aus dem Inneren der Gegenwart heraus, die zuckt und zuckt im Revolutionsmodus, und doch bricht nichts aus, und doch gibt es keine Gestalt dessen, was kommen könnte.

Die Wut der Entrechteten

Ein unsicheres Jahr also, auf jeden Fall, ein Jahr des Abstiegs, einerseits, ein Jahr des Aufruhrs, andererseits - und kein Buch fasst diese Unruhe so gut wie Yannick Haenels Roman "Die bleichen Füchse" (Rowohlt Verlag), mein Lieblingsbuch dieses Jahr, eine Geschichte wie ein Leuchtfeuer: Der Mann, der aus der Mittelschicht fällt, Angst 2014!, und der sich dann den Flüchtlingen der Pariser Vorstädte anschließt, Wut 2014!, Afrikaner vor allem, die die Revolution endlich in die Stadt tragen.

Denn wie das gehen könnte, von links, von rechts, von oben, von unten, wie die Veränderung passieren könnte, die notwendig ist, das war eine der zentralen Fragen dieses Jahres, auf die es keine Antwort gab: Haenel, der den Roman als Rechercheinstrument versteht und dabei eine flammende Prosa schreibt, die die Panik in Worte packt, hat es versucht: Die Härte des Kapitalismus, die Härte der EU-Krise, die Härte von Law and Order stellt er gegen die fast mythologische und unausweichliche Wut der Entrechteten.

"Unter unseren Masken erhebt sich ein Murmeln. Die Stimme des bleichen Fuchses. Er hat angefangen zu singen. Sein Wort öffnet in jedem von uns eine Erwartung, es überträgt sein Feuer auf alle Masken, es grüßt den Himmel und die Sterne."

So endet dieser große Roman - und zeigt dabei, wie eng er nicht nur mit dem aktuellen Denken verbunden ist, "Der kommende Aufstand" etwa des Unsichtbaren Komitees, sondern auch der Anthropologie, wie sie Claude Lévi-Strauss in die europäische Philosophie gebracht hat: Nie war sie so wertvoll wie heute.

Reduktion der Realität

Denn was Lévi-Strauss in seinem in diesem Herbst erschienenen Buch "Wir sind alle Kannibalen" (Suhrkamp Verlag) mal wieder zeigt: Die Gegenüberstellung von Wissenschaft und Mythologie ist nicht nur unsinnig, engstirnig und letztlich gefährlich, sie ist selbst eine Form von Mythologie, die fast an Aberglauben grenzt.

Die Reduktion der Realität auf das, was als bekannt gilt, auch das war eine der Entwicklungen 2014, und in diesen nun erstmals veröffentlichten Zeitungstexten (!) aus den Neunziger Jahren gelingt es Lévi-Strauss meisterhaft, die Gegenwart aufzubohren und für Fragen und Zweifel zu öffnen, so wie es die Tradition der Aufklärung ist: Unsere Wirklichkeit ist eine Konstruktion, geformt von Macht, Interessen und Unwissen, und die Geschichten über die Tiefe dessen, was es heißt, ein Mensch zu sein, helfen diese Konstruktion aufzubrechen.

Und so ist es auch verständlich, dass diese Kritik des Gegenwärtigen von den Rändern kommt, von jenseits dessen, was wir "den Westen" nennen - auch die vielleicht profundeste Kritik des Denkens der Vernunft, die selbst eine Konstruktion ist: Achille Mbembes Groß-Essay "Kritik der schwarzen Vernunft" (Suhrkamp Verlag), der einen dezidiert afrikanischen Blick auf die Welt hat und zu dem Ergebnis kommt: In der Herrschaft des Kapitals sind wir alle "Neger".

Philosophie des Anti-Humanismus

Mbembe nimmt dieses Wort, Neger, auf dümmliche Weise trivialisisiert in deutschen Rückzugsdebatten, und setzt es gegen und für den Weltgeist ein, er greift auf Geschichte und Denken des Kolonialismus zurück, das wieder eine überraschende Aktualität gewinnt, und formt daraus eine Philosophie der Freiheit, die aus der Erstarrung und dem Abstieg Europas eine Kraft zieht, die eindrucksvoll ist.

Der Kameruner schildert damit auch eine Art Nachgeschichte der europäischen Weltherrschaft - die Vorgeschichte beschreibt und betreibt wiederum der römische Dichter Lukrez, dessen mehr als 2000 Jahre altes Werk "Über die Natur der Dinge" (Galiani Berlin) in der neuen Übersetzung nicht nur zeigt, wie sich Schönheit und Klarheit im Denken bedingen: Es zeigt auch, wie die Lehre vom Kosmos durch das Christentum bekämpft wurde.

Die Geschichte von Lukrez ist damit wiederum die Schattenseite der Geschichte der Vernunft in diesem Teil der Welt, den manche heute unbedingt Abendland nennen müssen: Seine Revolution war eine der Neugier und des Wissens, eine Art von Humanismus, die den Menschen frei erfand von den Gesetzen der Macht und nur eingebunden in die Gesetze der Natur - die Anti-These dazu wiederum, eine Philosophie des Anti-Humanismus, beschreibt John Brockman in seinem Buch "Nachworte", das ursprünglich in den 1970er Jahren erschien und nun erstmals auf Deutsch mit eigener Aktualität.

Perspektiven zwischen Lügen, Aberglaube und Narzissmus

Denn die Welt, wie sie der damalige Universaldenker und heutige Übernetzwerker Brockman sieht, ist eine Welt, in der Vernunft, Wahrheit, Freiheit, Fortschritt nur Illusionen des menschlichen Geistes sind, der süchtig ist nach Sinn, den er sich deshalb besonders gern selbst produziert. Es sind Gedanken, die geboren sind aus der kybernetischen Philosophie und die Herrschaft der Maschinen, also der Computer und der Künstlichen Intelligenz, visionieren.

Es sind keine Gedanken, die Trost spenden wollen, aber es sind auch keine Gedanken, die Angst verbreiten wollen. Im Gegenteil: Indem er die Geschichte des Menschen von seinem Ende her denkt, eröffnet Brockman Perspektiven, die zwischen den Lügen, dem Aberglauben, dem Narzissmus und dem Wahn, der zum Menschsein gehört, einen anderen Blick auf die Welt erlauben.

Wie Lukrez. Wie Mbembe. Wie Lévi-Strauss. Wie Haenel. Denn darum geht es ja, sonst müssten wir nicht lesen.

In diesem Sinn auch noch meine Lieblingsprosa 2014:

James Salter , "Jäger", Berlin Verlag: "Eine Winternacht zog über Japan, schwarz und eisig, über das raue Wasser im Osten, die zerklüfteten, treibenden Inseln, all die Städte und Orte, die kleinen Häuser, die bitteren Straßen." - Was der Krieg aus Menschen macht.

Jenny Offill, "Amt für Mutmaßungen", DVA: "Antilopen sehen zehnmal besser als wir, sagtest du. Das war der Anfang, oder beinahe. Es bedeutet, dass sie in einer sternklaren Nacht die Ringe des Saturn sehen können." - Was die Ehe aus Menschen macht.

Emmanuel Carrère, "Alles ist wahr" , Matthes & Seitz Berlin: "Ich weiß noch, dass Hélène und ich in der Nacht vor der Welle davon gesprochen haben, uns zu trennen. Das Ganze war nicht kompliziert: Wir wohnten nicht unter einem Dach, hatten keine Kinder miteinander, wir konnten uns sogar vorstellen, Freunde zu bleiben. Trotzdem war es traurig." - Was das Unglück aus Menschen macht.

Und eben was diese Krise aus Menschen macht - Yannick Haenel, "Die bleichen Füchse", Rowohlt Verlag, der mit einem schönen Zitat von Walter Benjamin beginnt: "Überwindung des Kapitalismus durch Wanderung".

Alles Gute für 2015.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren