S.P.O.N. - Der Kritiker Ich verweigere mein Kreuz
Ich werde am 22. September nicht wählen. Ich kündige damit nur meinen Teil einer Verabredung, die die Politik schon längst gekündigt hat. Denn was sollen Wahlen in einem System, das nur noch als Schrumpfform der Demokratie zu erkennen ist?
Wahlen sind ja ein Akt des Stolzes und des Selbstbewusstseins und kein Gnadenakt. Wahlen sind nichts, was man verdrossen und mit Widerwille machen sollte. Wahlen sind nur ein Teil der Demokratie und vielleicht nicht mal ihr wesentlicher.
Wahlen können schön sein, sie sollten schön sein, auch in Zeiten der Krise. Wahlen sollten das Beste aus den Menschen herausholen, sie sollten leuchten, die Kandidaten und mit ihnen ihre Wähler. Wahlen sollten im Idealfall davon handeln, wie wir leben wollen, wie wir leben können in einer Welt der schmelzenden Polkappen und der schrumpfenden Budgets.
Aber wenn die Wahlen so erhebend sind wie ein Sonntag bei der Schwiegermutter mit zu viel Bienenstich, dann stimmt etwas nicht.
Zur Wahl gehören Alternativen. Aber was ist mit einer Opposition wie der SPD anzufangen, die sich selbst widerspricht (Agenda 2010) oder sich selbst verheddert (Prism)? Oder sich einfach nur wegduckt, wenn ein Minimum an Anstand und Vision nötig wäre - vom Alltag der Euro-Krise über die Tragödie in Syrien bis zur Revolte in Istanbul und Brasilien? Keine erkennbare Position, außer der Fehlervermeidung, kein erkennbarer Wille, außer ein wenig Sendezeit in der "Tagesschau".
Zur Wahl gehören Prinzipien. Aber was soll man von Wolfgang Schäuble halten, der sich gerade in Griechenland hingesetzt und gehofft hat, irgendjemand werde ihm glauben, dass er mit der EU-Spar-Politik eigentlich nichts zu tun hat (Who? Me?). Bis eine Reporterin des Bayerischen Rundfunks vorbeikommt und für die "Tagesschau" einen Bericht an der Grenze zur Propaganda macht: Viel ist da von "Gesten" die Rede, als ginge es um Kim Jong Un und nicht um europäische Wirtschaftspolitik; es sei ein "Klischee", dass Deutschland Griechenland kaputtspare, und wenn das Demonstrationsrecht in der Geburtsstadt der Demokratie ausgehebelt wird, stellt sich in dieser Blümchenstory nicht mal die Frage, wer da gerade was beschädigt.
Zur Wahl gehören Politiker und Parteien. Aber ein einziger Satz im "Economist" reichte neulich aus, die Maske der Berliner Politiksimulanten herunterzureißen - der Satz stand in dem Dossier über den "widerwilligen Riesen" Deutschland, der sich weigert, Europa aus dem Schlamassel zu führen. Ein wegweisendes Dossier, das an allen Schulen gelesen werden sollte, falls später mal jemand fragt, wie alles so gekommen ist. Und der Satz ging so: "Deutschlands Politiker wollen nicht sehen, wie fehlerhaft und kurzsichtig ihr aktueller Ansatz ist, sie weigern sich aber auch, einen mutigeren und besseren Plan zu formulieren."
Mit anderen Worten: Wir sind allein. Da ist niemand, der uns zeigt, wie es geht. Im Grunde ist es ein Akt der Befreiung. Wir müssen es schon selbst tun.
Jürgen Habermas nennt das die "Selbstautorisierung von Staatsbürgern, die kollektiv auf ihre gesellschaftlichen Existenzbedingungen Einfluss nehmen". Manche nennen das Wahlen. Man kann es auch anders nennen, wenn es etwas anderes ist.
Wie kann man also im "Im Sog der Technokratie", so heißt sein gerade erschienener Band mit Aufsätzen, eine Demokratie begründen, die etwas anderes ist als eine Art Off-Shore-Demokratie, die wesentliche Funktionen bereits ausgelagert hat: "Schon heute", so zitiert Habermas aus der "Süddeutschen Zeitung", "haben die Regierungen der Euro-Länder einen Gutteil der Aufgaben, die eigentlich sie selbst erledigen müssten, auf die Notenbank übertragen - aus schierer Angst davor, dass die Wähler ihren Kurs der Euro-Rettung nicht mehr mittragen."
Gestörte Rückkoppelung
Als Wähler kann man also nur über Fragen abstimmen, von denen vorher entschieden wurde, dass man sie den Wählern zur Abstimmung vorlegen soll. Wer sich an solchen Wahlen beteiligt, beteiligt sich im Grunde an Wahlbetrug.
Jürgen Habermas, das Diskurs-Orakel vom Starnberger See, nennt das "Rückkoppelungsschleifen". Gerade diese Rückkoppelung zwischen Politik und Bürgern ist aber gestört. "Eine positive Rückkoppelung zwischen privater und öffentlicher Autonomie ist eine notwendige Bedingung für die Legitimität der Ordnung eines demokratischen Rechtsstaats."
Mit anderen Worten: Wenn die Politiker die Demokratie kaputtmachen, können die Wähler sie auch nicht ewig retten, müssen sie auch nicht ewig retten, durch Wahlen etwa. Die Staatsbürger sind "autonom", sagt Habermas, die Politiker sind es nicht. Die Staatsbürger, heißt das, sind im Recht.
Das ist ein anderes Bild, das sich in den sperrigen, schweren, schönen Sätzen von Habermas bildet. Ein anderes Gefühl auch als das Getriebensein der gegenwärtigen Politik, als das Überwölbende, fast Brutale, auf jeden Fall Undurchlässige der aktuellen Parteien- und Politikerkonstellationen.
Wer nicht wählt, hieß es in der alten Bundesrepublik, der stimmt im Grunde dem System und der Politik zu, wie sie sind - es waren die linksliberalen Sozialkundelehrer einer anderen Zeit und eines anderen Landes, die das sagten.
Der Satz ist nicht logisch haltbar, sondern nur ideologisch. Er machte die Demokratie eng und begrenzte sie auf das, was man sah, was man kannte, was sicher schien. Es war ein Satz der Defensive.
Der Nichtwähler definiert den politischen Raum für sich neu. "Bolder and better", so nennt das der "Economist".