
S.P.O.N. - Der Kritiker Die Zeit des Augenzwinkerns ist vorbei

All die Fratzen und Glatzen, all das Gegröle und der Hass, all die Dummheit und Dumpfheit und die Videos auf Facebook, wo eine Frau zu hören ist, die brüllt, als würde ihr gerade der IS an die Gurgel gehen. Dabei ist es nur Angela Merkel, die Heidenau besucht, und die Frau schreit wie von Sinnen, sie schreit Fotze und Fotze und Fotze: und dazu sieht man nicht die Frau, man sieht nur den fahlblauen Himmel über Heidenau, bedrohlich, verwackelt, als könnte er jeden Tag über uns einstürzen.
All das Reden über Sachsen und das autoritäre und sehr deutsche Erbe der DDR, über die Nazis im Schatten der Mauer damals, über die Nazis im Schatten der Tankstellen heute und den kurzen Weg von Pegida zu "Wir sind das Pack": Weil nicht nur die Zeiten härter geworden sind, sondern auch die Sprache, in beide Richtungen, ist es eine Sprache der Ratlosigkeit, von so einem Ratlosigkeitsapostel wie Sigmar Gabriel , aber er ist ja auch in der gleichen Partei wie der thüringische SPD-Chef, der von all den bizarren Ideen der vergangenen Wochen die bizarrste hatte: dass Flüchtlingskinder lieber mal nicht in die Schule gehen und Deutsch lernen sollten und ankommen in diesem Land, ein weiteres Zeichen einer Politik, die sich nur noch als Offenbarungseid versteht.
All die Schäbigkeit und das Taktieren von jemand wie Thomas de Maizière, der gleichzeitig "wütend und fassungslos" sein kann über die Toten im Kühltransporter , Opfer einer Abschottungspolitik, die er selbst will und verantwortet und jeden Tag neu fordert, gerade erst wieder an dem Tag, an dem die Schweigekanzlerin viel zu spät Heidenau besuchte und den typischen pythiahaften Merkel-Satz sagte: "Deutschland hilft, wo Hilfe geboten ist ", was ja Hilfe unter Bedingungen stellt und zur Entscheidung derjenigen macht, die die Macht haben: und de Maizière gleich zeigte, worin genau diese Hilfe bestehen würde, nämlich darin, die Asylverfahren zu beschleunigen und die Leistungen für Flüchtlinge zu kürzen.
Es sind mal wieder die Regeln, Regeln, Regeln, von denen deutsche Politiker derzeit so gern reden, wenn es um Prinzipien ginge und Ethik und Moral. In der Griechenlandkrise war das der Duktus, und er ist es auch auf fatale und entmutigende Weise in der Flüchtlingskrise.
Überfordert sind erst mal die Menschen, die hier ankommen
All diese Nachrichten und Bilder der vergangenen Tage und Wochen also, die Landkarte der Brände und Attacken, dieses wütende, angstvolle, fragende Crescendo: Sind die Deutschen wieder so, immer noch so, rassistisch und böse, oder sind sie doch ganz anders, bunt und gut? Es war richtig und wichtig und fühlte sich doch mehr und mehr falsch an, weil es die Aufmerksamkeit, und das ist eine sehr deutsche Sache, nach innen zog, auf die eigenen Kämpfe, die eigenen Schwächen und Ängste und fort von denen, um die es gerade gehen sollte, die vielen vielen Menschen, die nach Deutschland kommen, um der Not zu entgehen, sei sie politisch oder wirtschaftlich, es ist ja nicht wirklich zu trennen, und wer die Leute vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales in Berlin-Moabit gesehen hat, wie leer sie sind und müde und doch voller Hoffnung, weil sie endlich hier sind, der muss schon ein völlig empathiefreier Leitartikler sein wie Jasper von Altenbockum von der "Frankfurter Allgemeinen", dem immer nur einfällt zu trommeln und zu trommeln, "die Bundesrepublik ist überfordert ".
Die Negativmeldungen, so wichtig sie sind, befeuern in gewissem Sinn dieses Gefühl, sie geben dem grassierenden Unbehagen neuen Stoff. Überfordert sind aber doch erst einmal die Menschen, die hier ankommen, Streugut einer globalisierten Welt, in der alles mit allem zusammenhängt, unser Wohlstand mit ihrer Armut, unsere Sicherheit mit ihren Kriegen, unsere Lügen mit ihrem Leiden. Der Krieg in Syrien etwa tobt seit Jahren, seit Jahren hilft niemand den Menschen dort, es ist das Fanal unserer Zeit, und seit Jahren wurde darüber geschrieben, dass es so kommen würde, wie es nun kommt - niemand kann sich darüber wundern, und es hilft auch nichts, eine Symbolgeste gegen rechts zu unternehmen. Die Gründe für die Konflikte, die wir gerade erleben, lassen sich so nicht lösen.
Jemand wie von Altenbockum nutzt den angeblichen Ausnahmezustand, um Platz zu schaffen für seine Argumente. Er bedient die Angst der Menschen, indem er sie schürt. Er verhält sich dabei nicht viel anders als "Bild", wo seit Monaten von "Wir" gegen "Die" geschrieben wird, "wir Deutschen", die für "den Rest" bezahlen müssten, mal sind es die Griechen, mal sind es die Flüchtlinge - und selbst, wenn sie bei "Bild" derzeit etwas unglaubhaft versuchen gegenzusteuern , sie haben dort über Monate, Jahre und Jahrzehnte den aggressiven und abfälligen Verdachtston gegenüber Ausländern und Asylbewerbern gepflegt und befördert, der nun über den Umweg Heidenau ff. zurückkehrt.
Radikalisierung der Gegner, Mobilisierung der Freunde
Es ist, bei von Altenbockum, ein Ton des durchökonomisierten und durchbürokratisierten Gesellschaftsdenkens, der nicht nur kalt ist, sondern an dem vorbei geht, was gerade passiert, weil er ausblendet, wie die Flüchtlingsherausforderung das Land verändern kann, im Positiven, und bereits verändert hat.
Denn, und das macht die Situation so schizophren, es finden ja gerade zwei gegenläufige Prozesse statt, eine Radikalisierung der Gegner und eine Mobilisierung der Freunde einer offenen Gesellschaft: Hilfe, Spenden, Aufnahme von Flüchtlingen. Es könnte das sein, was Sascha Lobo gemeint hat, als er von einem Defining Moment für eine ganze Generation sprach - nicht nur defensiv, wenn es um den Widerstand gegen die rassistische Raserei geht, sondern auch konstruktiv, wenn es darum geht, dass diese Gesellschaft definiert, was sie sein will, dass sich jeder einzelne fragt, wer er oder sie sein will.
Es geht nicht und ging nie, dass eine Demokratie sich abschottet, weil das moralische Versagen viel zu groß wäre. Eine Gesellschaft braucht einen Grund, warum sie sich als Gesellschaft definiert: die Flüchtlinge liefern diesen Grund.
Am deutlichsten und auch durchaus beeindruckend haben das Joko und Klaas in dieser Woche vorgeführt, in ihrem Video, in dem sie sich mit harten, aber angemessenen Worten gegen Rassismus und Flüchtlingshetze zur Wehr setzten: Es war, als konnte man ihnen dabei zusehen, wie ein Panzer aus Ironie und spielerischem Witz zerbrach, diese ganz Welt der uneigentlichen Rede und der augenzwinkernden Selbstinszenierung - und sie schienen fast froh, sie schienen auf gewisse Weise aufzuatmen, dass sie sich selbst entschlossen hatten, die zu sein, die sie waren, Menschen, die tun, was sie tun, weil sie Menschen sind.
Aus diesem Video sprach die Einsicht, dass sich etwas von Grund auf verändert hat in den vergangenen Monaten. Und dass das auch jeden Einzelnen verändern wird. Flüchtlinge willkommen.
Im Video: Fünf Fakten gegen Flüchtlingshass