Gewagtes Musiktheater Anne Frank wird zum Musical-Star

Holocaust goes Musical: Das Tagebuch des jüdischen Mädchens Anne Frank, das 1945 im KZ Bergen-Belsen starb, liefert jetzt erstmals Stoff für ein Musical. Selbst die sonst so zurückhaltende Anne-Frank-Stiftung unterstützt das Sing- und Tanzstück.

Es klingt bizarr und pietätlos: das Leben der Anne Frank als Musical. Doch der spanische Regisseur Rafael Alvero bringt das Stück im Februar im Teatro Häagen-Dazs Calderón in Madrid auf die Bühne. Die Rolle der jungen Jüdin, deren Tagebuch in über 60 Sprachen übersetzt wurde, übernimmt die 13-jährige Isabella Castillo, eine gebürtige Kubanerin.

Regisseur Alvero, der auch die spanische Kinovereinigung (FECE) leitet, stellte mit dem Projekt zugleich Wage- und Langmut unter Beweis: Er vergleicht das Tagebuch Anne Franks mit einer tragischen Oper. Und er arbeitet bereits seit zehn Jahren an dem Stück, sprach vor neun Jahren erstmals bei der Anne-Frank-Stiftung vor.

Nie zuvor hat ein Musical die Geschichte Franks aufgegriffen, auf Bühne und Leinwand hat sie es jedoch bereits oft geschafft: Den Auftakt machte der Kinofilm "Das Tagebuch der Anne Frank" (1959), der drei Oscars erhielt. Aber selbst Steven Spielberg bekam noch einen Korb, als er Franks Lebens- und Leidensgeschichte ins Kino bringen wollte. Otto Frank, Annes Vater und einziger Holocaust-Überlebender der Familie, hatte noch bis zu seinem Tod 1980 seine Zustimmung zu künstlerischen Adaptionen des Tagesbuchtextes verweigert - zu schmerzlich war die Erinnerung an die Vergangenheit. Und so lehnte die traditionell über die Rechte am Buch wachende Stiftung auch Alveros Projekt zunächst ab.

Jan Erik Dubbelman, internationaler Leiter der Anne-Frank-Stiftung, gestand gegenüber SPIEGEL ONLINE ein, dass die Stiftung lange Diskussionen geführt habe, ehe sie dem Projekt doch zustimmte. Auch wenn das Musical keine Zitate aus dem Tagebuch verwendet - und damit unabhängig vom Einverständnis der Anne-Frank-Stiftung ist - legte Alvero Wert auf eine enge Kooperation. Er habe die Stiftung "von seiner Qualität und seinen Absichten" letztlich überzeugt, so Dubbelman.

Und wohl auch vom Effekt, den Alvero prognostizierte: Das Musical würde Kinder und Jugendliche noch mehr bewegen, als es ein Buch oder eine Ausstellung vermögen. Und es bliebe gleichzeitig nah an den Idealen Anne Franks, wie sie in ihrem Tagebuch zum Ausdruck kämen. An ihrem 13. Geburtstag im Jahr 1942 begonnen, erzählte sie darin zwei Jahre lang der imaginären Freundin "Kitty" aus ihrem Alltag - bis die Nationalsozialisten das Versteck stürmten.

Am vergangenen Freitag, wenige Wochen vor der Premiere am 28. Februar, erhielt das 22-köpfige Ensemble eine Führung durch das Anne-Frank-Haus in Amsterdam, besichtigte den Originalschauplatz des Musicals: Im Achterhuis in der Prinsengracht versteckte sich Anne Frank zwischen 1942 und 1944, ehe sie deportiert wurde und im KZ Bergen-Belsen an Typhus starb.

Zwei Mädchen, zwei Fluchten

Die Stiftung steht heute fest hinter dem Projekt. Bei einer kleinen Voraufführung für die Mitarbeiter des Anne-Frank-Hauses gab es Applaus für die Gäste aus Madrid. Dubbelman nannte den Auftritt im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE "sehr bewegend". Alvero durfte sein Projekt endgültig als abgesegnet betrachten.

Die Sprache des Musicals ist Spanisch. Darin sieht Dubbelman einen Vorteil, der auch ein wenig nach Geschichtsmarketing schmeckt: Anne Frank in Lateinamerika noch bekannter zu machen. Dafür nimmt die Stiftung in Kauf, dass es zu eher merkwürdigen Vergleichen kommt. So hat Isabella Castillo, das Mädchen in der Rolle Anne Franks, bereits Parallelen zwischen ihrem Leben und dem Schicksal Anne Franks gesucht - und gefunden. Die Flucht der Franks aus Nazideutschland nach Amsterdam 1933 vergleicht sie mit der Migration ihrer Mutter von Kuba nach Miami - zwischenzeitlich versteckten sich Mutter und Tochter in Belize. Beide Mädchen waren zum Zeitpunkt der Flucht im Kleinkindalter. Zwei Mädchen, zwei Fluchten. Da hören die Parallelen auf - und die Enthistorisierung fängt an.

Für den Fall eines großen Musical-Erfolgs soll es jedoch kein Merchandising gegen - soviel Respekt muss sein. Anne Frank auf Postern, T-Shirts und Tassen, das wäre auch Dubbelman zuviel der PR. Stattdessen wird das Theater im Herzen Madrids eine Ausstellung mit Bildern Anne Franks und ihrer Familie beherbergen. "Wir bieten ein Begleitprogramm für Schulklassen an, niemand soll unvorbereitet in das Musical gehen", so Dubbelman.

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