
S.P.O.N. - Der Kritiker Der Wandel in den Worten

Wir leben im Zeitalter der Krise. Sie ist keine Phase mehr, es gibt keinen Plan für eine Lösung, sie ist nichts, das man - theoretisch oder praktisch - überwindet: Die Krise ist permanent geworden und damit zum Widerspruch ihrer selbst.
Denn die Krise ist eigentlich Übergang, sie scheidet das Alte vom Neuen - wenn es aber keine Vorstellung des Neuen gibt, wenn die Zukunft verschluckt ist von der allgegenwärtigen Alternativlosigkeit des herrschenden Kapitalismus, bleibt die Krise wie ein Kater ohne Rausch.
Die Krise ist damit das Signum der Zehnerjahre, die sich dahinschleppen, in einer lähmenden Agonie. Sie ist das Zeichen einer postdemokratischen Malaise: der andauernde Ausnahmezustand, so nannte es Giorgio Agamben, das Herrschaftsinstrument einer erkalteten Macht.
Die Neunzigerjahre waren lang und endeten am 11. September 2001 mit den Anschlägen auf das World Trade Center. Die Nullerjahre waren kurz und endeten am 15. September 2008 mit dem Zusammenbruch der Lehman Brothers Bank. Seither regiert die Anarchie.
Denn die Prinzipien der Krise sind nicht erprobt. Sie sind nicht legitimiert. Sie sind Stückwerk, das unterwegs produziert wird. Es gilt nur noch die Rationalität des Handelns, das heißt die Rationalität oder Irrationalität der Märkte - nicht mehr die Richtigkeit der Ziele.
Die Sprache ist aseptisch geworden
Diese Krise ist längst ein Zustand geworden, sie schafft Zusammenhalt, sie schafft ihr eigenes Bewusstsein, ihre eigene Logik, ihre eigene Sprache - wobei die Sprache der Krise auch die Krise der Sprache zeigt.
Denn die Worte der Krise verbergen ihre Bedeutung, sie werden zu Chiffren in einem Spiel der Macht und der Täuschung, bei dem es vor allem darum geht, die eigentliche Absicht zu verbergen.
Es ist eine Sprache, die aseptisch geworden ist und abwaschbar, eine Sprache, die ihre eigene Künstlichkeit reproduziert, die Sprache der Bürokraten und der Regeln, die Sprache der Funktionalitäten und Zwänge, die Sprache, die kein Instrument der Aufklärung mehr ist, sondern der Abhängigkeit.
Wir haben uns längst verändert, vielleicht ohne es zu merken. An den Worten aber, die wir verwenden, kann man diese Veränderungen erkennen.
Austerität: Ein neues Wort mit einem sehr altmodischen Klang. Ein Wort, das mehr verbirgt, als es preisgibt. Ein kompliziertes Wort, das etwas leicht Verständliches bedeutet: die Aufforderung zum -> Sparen. Ein Wort, das in Deutschland eine andere Bedeutung hat als in anderen Ländern: Die einen sehen darin die Lösung, die anderen das Problem.
Brüssel: Ein Moloch, so hieß es früher, bevölkert von Politikern, die nichts mehr werden oder nie etwas wurden. Geld, so schien es, war reichlich vorhanden, davon zeugten die guten Restaurants in der Stadt und mitten in Spanien, Portugal oder Griechenland die fabelhaften Autobahnen, die mitten ins Nichts gebaut wurden. Damals war Brüssel für viele ein Versprechen, heute ist es für viele der Feind.
Chaos: Das Chaos droht, wenn Regeln nicht eingehalten werden. Das Chaos droht aber auch, wenn Regeln eingehalten werden. Die -> Austerität, sagen vor allem angelsächsische Ökonomen, hat die griechische Gesellschaft an den Rand gespart. Der Rand ist der Ort des Chaos. Die Mitte ist Ruhe. Wenn die Mitte unruhig wird, ist die -> Demokratie in Gefahr.
Demokratie: Die Demokratie ist in vielem die Lösung für das -> Chaos, wenn sie nicht selbst zum -> Chaos führt - spätestens in der Griechenlandkrise schien sich da für manche die Grenze zu verwischen: Die einen feierten das urdemokratische Referendum, mit dem die Griechen über die -> Sparauflagen entscheiden sollten, die anderen kritisierten den "Volksentscheid" ("Süddeutsche Zeitung"), was in seiner Gänsefüßchenhaftigkeit an die "DDR" erinnert und damit wohl seine -> demokratische Legitimität einbüßt. Interessant auch, dass gleichzeitig der Begriff des Kommunismus wieder in die politische Sprache zurückfand. Gemeint war unter anderem der Marxist -> Varoufakis.
Europa: Eine Art politisches Perpetuum Mobile, jedenfalls wenn man die Jahre seit dem Fall der Mauer betrachtet: Europa breitete sich aus, wie von selbst, es schien fast ein historisches Naturgesetz - Europa setzte sich selbst ins Recht, Grenzen fielen, der Nationalismus löste sich, so schien es, in Nichts auf. Alles wurde eins durch EU und Easy Jet. Dieser optimistische Automatismus der Weltgeschichte ist nun auf Umkehrschub.
Finanzminister: Sie sind die Schlüsselfiguren in der -> Krise, sie liefern die Sprache und die Bilder: Sie reden von -> Rettungsschirmen und Hilfspaketen. Sie sind aus dem Schatten in das Licht getreten, nur wenn es gar nicht mehr weiter geht, müssen die Regierungschefs ran. Sie repräsentieren eine Verschiebung, die Dominanz der Finanzmärkte in diesem Drama. Am Ende schien es, als ob einer gegen alle steht, der Neue gegen alle Alten, -> Varoufakis.
Geldgeber: Geld ist gut, Geben ist gut, Geldgeben ist damit doppelt gut: Das Wort suggeriert eine positive Bedingungslosigkeit, einen Akt der Großzügigkeit und der Hilfe. Das Wort ist aber nicht neutral. Kein Geber ohne Nehmer. Keine Großzügigkeit ohne Dankbarkeit. Keine Hilfe ohne Gegenleistung. Dieser Machtfaktor ist in dem Wort weitgehend verschluckt. Das mag möglicherweise Absicht gewesen sein.
Haftung: Ein Wort wie ein langer Nachmittag im Sommer, der damit endet, dass der Fußball das Fenster des Nachbarn zertrümmert. Ein Wort wie von Herrn Kaiser von der Hamburg-Mannheimer. Ein Wort, das die Verwandlung einer Idee in eine Versicherungspolice beschreibt.
Investitionen: Es ist in Europa ein wenig wie bei der deutschen Filmförderung, nur auf europäischem Niveau: Das Geld, das investiert werden soll, muss investiert werden, sonst kriegt man in der nächsten Runde nichts mehr. So lange die Maschine lief, war das kein Problem. Als die Maschine ins Stocken geriet, war auf einmal die Mehrheitsmeinung in -> Europa, dass eine Wirtschaft wie die griechische auch gut ohne Investitionen wieder zum Laufen kommt.
Juncker, Jean-Claude: Der Mann ist Europa, er war 20 Jahre -> Finanzminister und hat Luxemburg reich gemacht. Er war die meiste Zeit über gleichzeitig auch Premierminister und symbolisiert damit den Widerspruch zwischen dem Primat des Ökonomischen und des Politischen, der in Europa zugunsten der Wirtschaft gelöst ist. Junckers Vorteil bei all dem: Er ist Deutscher, ohne deutsch zu sein. Perfekter kann man sie nicht symbolisieren, die Übernahme des Kontinents durch - uns.
Krise: Die Krise verlangt die Entscheidung. Sie ist kein Zustand, der auf Dauer angelegt ist. Die Krise schafft sich ihre Akteure und setzt sie ins Recht. Die Krise ist ein Erzählmuster, das die Geschichte in Vorher und Nachher teilt und damit eine Dramaturgie im -> Chaos schafft. Die Krise suggeriert Dynamik, Optionen, Resolution, gerade weil ihr Vorübergehen zwingend in dem Begriff selbst angelegt ist. Wenn die ihren Übergangs-Charakter verliert, wird sie zum Zustand. Dann wird sie gefährlich, weil das, was bislang als Möglichkeit im Raum stand, seine Plausibilität verliert. Das Ergebnis ist Angst oder Lähmung oder beides.
Lagarde, Christine: Die Sphinx von der Sonnenbank, angenehm anzuschauen zwischen all den Männern und doch fehl am Platz, weil ihre Organisation, der Internationale Währungsfonds als Teil der Troika, keine -> demokratische Grundlage hatte für das, was sie an -> Austeritätspolitik von den -> Schuldenländern forderte. Spät erkannte sie, dass -> Sparen wohl doch nicht der richtige Weg gewesen ist.
Merkel, Angela: In der -> Krise ist der -> zeitliche Horizont von Merkels Kanzlerschaft deutlich geworden, nicht als Zenit, aber als Zäsur. Die Gelassenheit ist einer Dringlichkeit gewichen, die den Geschichtsbüchern geschuldet ist. -> Merkels Nichtentscheiden wurde lange zum Geheimnis ihrer Macht erklärt. Dann wurde klar, dass sie das Land damit einlullt, narkotisiert, einschläfert. Christopher Clarkes Buch über den Ersten Weltkrieg heißt "Die Schlafwandler".
Der zweite Teil des Glossars folgt kommende Woche.
