Günter Grass "Der 17. Juni war keine Revolution"
Hamburg - In einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa kritisierte Grass, dass der ostdeutsche Aufstand in beiden deutschen Staaten historisch verfälscht worden sei: "In der DDR nach üblichem Muster als versuchte Konterrevolution, und im Westen hat der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer von Anfang an den Arbeiteraufstand umgebogen zur Volkserhebung - das ist er aber nie gewesen."
"Ich habe diese Form des Umgangs mit dem 17. Juni immer scheußlich gefunden", sagte der Literaturnobelpreisträger. Für ihn sei es ein führungsloser Arbeiteraufstand gewesen, "auf den wir stolz sein können". Mit den Protesten hätten sich, wie es der französische Autor Albert Camus sah, die deutschen Arbeiter rehabilitiert, nachdem sie 1933 durch ihre Unterstützung für Hitler versagt hatten. Der 17. Juni 1953 sei "ein ganz großes Datum der deutschen Geschichte, das aus unserem Gedächtnis nicht verschwinden darf", so Grass.
Der Schriftsteller verwies auf die Anfänge der am Ende viele Orte der DDR erfassenden Aufstände. Es sei um verschärfte Arbeitsnormen, um Lohn und um Preiserhöhungen gegangen, "erst dann kam die Forderung nach freien Wahlen, aber es war keine Revolution". Gegen die Bezeichnung als "Tag der Einheit" (im Westen) wäre nichts zu sagen gewesen, "denn eine der Forderungen war die nach gesamtdeutschen Wahlen". Grass selbst war Augenzeuge. Zusammen mit seiner ersten Frau Anna sah er von der sicheren Westseite der Sektorengrenze aus hinüber auf die Proteste am Potsdamer Platz: "Mich hat das sehr beeindruckt, vor allem diese Ohnmachtsgeste - das Werfen von Steinen gegen Panzer." Grass' Erlebnisse sind auch in seinem Buch "Mein Jahrhundert" dokumentiert.
In Hinblick auf die zahlreichen Opfer des Aufstands sagte Grass: "Wir haben heute keine Diktatur, sondern als Bürger viele demokratische Möglichkeiten - nur machen wir zu wenig Gebrauch von dem, was andere Generationen vor uns mühsam erkämpft haben". Sowjetische Truppen hatten die Aufstände gewaltsam niedergeschlagen, Schätzungen zufolge gab es 25 bis 300 Tote und etwa 1200 Verhaftete. Viele Aufständische landeten im Zuchthaus. "Wir nehmen diese Dinge wie Selbstverständlichkeiten und entwerten sie dadurch. Demokratie ist kein fester Besitz, sie bleibt nur erhalten, wenn man sie sich täglich neu erobert - wenn man Gebrauch macht von den demokratischen Rechten. Dafür ist Jahrzehnte lang, Jahrhunderte lang gekämpft worden."
Die Einschätzung des ZDF-Historikers Guido Knopp, dass der 17. Juni letztlich erst mit dem Fall der Mauer am 9. Juni 1989 vollendet worden sei, teilt Grass bedingt: "Ein Korn Wahrheit ist da schon drin, bloß muss man auch sehen, dass es - im Gegensatz zu anderen Ländern wie Polen, Ungarn oder der Tschechoslowakei - nach den schrecklichen Erfahrungen vom 17. Juni in der DDR lange, lange Zeit still blieb."
Auch das Verhalten der Alliierten sollte man nüchtern in Erinnerung behalten, meint Grass: "Wir sind im Kalten Krieg davon ausgegangen, dass die Westalliierten voll und ganz die bundesdeutsche Sache vertreten würden. Sie haben das nur bis zu einer gewissen Grenze getan, bis zu dem, was Konsens war zwischen den ehemaligen Siegermächten: Das ist unser Gebiet und das ist euer Gebiet." Beim Eingreifen der sowjetischen Panzer am 17. Juni habe man gewiss sein können, "dass von amerikanischer, britischer und französischer Seite nichts geschehen würde - wie 1956 beim Posener Aufstand in Polen und beim ungarischen Volksaufstand, 1961 beim Bau der Mauer und 1968 in der Tschechoslowakei". "Jedes Mal hat der Westen den Status quo respektiert - nichts ist geschehen."
Am Dienstag, dem 50. Jahrestag des 17. Juni, wird Grass im Berliner Ensemble - der früheren Brecht-Bühne - aus seinem Theaterstück "Die Plebejer proben den Aufstand" lesen. Grass hatte es zwölf Jahre nach dem Aufstand geschrieben und sich darin mit der Thematik vielschichtig auseinandergesetzt. Anfangs oft gespielt, finde man das Stück, das unter anderem Bertolt Brechts Rolle 1953 zur Diskussion stellt, seit Jahren an keinem deutschen Theater mehr, sagte Grass. "Mein Verlag hat das Stück neu aufgelegt; ich würde mir wünschen, dass es wieder häufiger auf die Bühne kommt." Er sei froh darüber, dass der 17. Juni durch viele Dokumentationen wieder ins Bewusstsein rücke.