Georg Diez

Heimat und Nation Das große Sicherheitstheater

Neuerdings versucht auch die Linke, den Begriff der Heimat für sich zu reklamieren. Das kann nicht funktionieren. Es gibt andere Identitätsangebote als das der Nation.
Heimat - ein umkämpfter Begriff

Heimat - ein umkämpfter Begriff

Foto: Sebastian Kahnert/ picture alliance / dpa

Es fehlt eine radikale neue Vorstellung davon, was ein Bürger sein kann im 21. Jahrhundert; nur deshalb können die Rechten, die Nationalisten, die Heimatverbliebenen so gut mit Angst und Identität spielen, mit Einschluss und Ausschluss, mit Grenzen und Mauern.

Sie treiben den Rest der Gesellschaft, sie treiben vor allem die Linken, die Progressiven, die Weltoffenen vor sich her, weil es von dieser Seite zu wenig Vorstellungen und Vorschläge gibt, zu wenig Ideen und Initiativen, wie sich Bürgerrechte, wie sich Bürgerschaft anders denken lässt als als Staatsbürgerschaft.

Eine "imagined community" hat Benedict Anderson in seiner oft zitierten Formulierung die Nation genannt - eine imaginierte, eine vorgestellte, eine durch Worte, Ideen und Praktiken geschaffene Gemeinschaft, die ja aber bei Weitem nicht das einzige mögliche Identitätsangebot ist und sicherlich eines der destruktivsten.

Heimatbegriff als Trojanisches Pferd

Es gibt nun auch von linker Seite den Versuch, die Nation zu retten als progressive Vision einer gerechteren Gesellschaft - und gerade im Nachdenken über die Realität und die Folgen der Globalisierung haben Ökonomen wie Dani Rodrik gezeigt, dass das Gefäß der Nation als Raum für Rechte und Sicherheiten der Bürger gegen einen willkürlich agierenden Markt durchaus emanzipatorisches oder wenigstens Widerstandspotenzial hat.

Die Diskussion darüber, ob man den Heimatbegriff den Rechten überlassen sollte, wie sie zum Beispiel in der SPD geführt wird, ist in gewisser Weise die Schrumpfvariante davon, selbst wenn sie von manchen insgeheim so gesehen wird, dass mit dem Vehikel des Heimatbegriffs als eine Art trojanischem Pferd die Vorstellung eines aktiven Staates im Sinne von Keynes in die Diskussion geschmuggelt werden könnte, also eine tatsächlich notwendige Re- oder Neudefinition der Macht und der Bedeutung des Staates gegenüber dem Auflösungstendenzen der Gesellschaft.

Nationalismus als Akt der Selbstverteidigung

Aber über den Begriff der Heimat, der gegenwärtig und auch historisch so klar rechts besetzt ist, lässt sich das meiner Meinung nach nicht erreichen - es ist fast unmöglich zu erklären, dass das Aufgreifen dieses Begriffs keine Anbiederung an einen rechten Zeitgeist ist, sondern etwa von der offenen Vorstellung einer Heimat Kreuzberg getragen ist, also eine Zugehörigkeit, die sich lokal definiert.

Und selbst wenn das gelingt - die Zeit, die man für diese defensiven Diskussion aufwendet, könnte man besser, sollte man besser für die dringenden Offensiv-Exkursionen verwenden und nach anderen Formen von bürgerlicher Selbstorganisation suchen, von Identität und Zugehörigkeit in einer Zeit, in der Nationalismus wie ein Akt der Selbstverteidigung wirkt gegen eine postnationale Realität, geschaffen von neoliberalen Kräften und unterstützt, so heißt es manchmal in Form linker Selbstgeißelung, durch linke oder liberale Kosmopoliten, die jeden Sinn von Heimat und Zugehörigkeit verloren hätten.

Abgesehen davon, dass dieser Vorwurf im Kern einer ist, der oft Juden gemacht wurde und in einer antisemitischen Denktradition steht: Das Problem bei diesem Argument ist, dass es Identität wieder an die Nation bindet, an eine alte Idee von Zugehörigkeit, und nicht versucht, etwa im Kosmopolitischen etwas anderes zu sehen als das Wurzellose und Ortlose - dabei ist die Nation ortlos und der Kosmopolit im Zweifelsfall sehr ortskundig, selbst oder gerade weil er nicht in dem Land oder in der Stadt lebt, wo er geboren ist.

Die Zuschreibungen, das merkt man schon, werden sofort verzerrt, wenn man sich auf rückwärtsgewandtes Denken einlässt - im Zeitalter der neu errichteten Mauern, der Abschottung und des Niedergangs der staatlichen Souveränität, wie es die amerikanische Philosophin Wendy Brown beschreibt, lässt sich eine Antwort auf die Fragen nach Identität und vor allem Bürgerschaft sehr direkt in einer Realität finden, die neue Formen von Gemeinschaft vorgibt, jenseits von Mauern und Nationalstaat.

Brown beschreibt die Wechselwirkung von beidem, wie die Mauern eine Art theatrales Spektakel sind, mit großem Aufwand inszeniert und weitgehend symbolisch und bedeutungslos, weil die wahren Kräfte, die die Nation bedrohen, nicht auf Grenzkontrollen warten. Es sind die internationalen Finanzmärkte genauso wie transnational agierende Konzerne oder ein Klimawandel, der die Grundlagen von Staaten mehr verändern kann als Migranten, eine ganz eigene Art von "imagined community".

Die Nation also, die ihre Souveränität real verloren hat, versucht sie mit den falschen Mitteln wiederzugewinnen, was zu Irrationalität führt bei denen, an die sich dieses Spektakel richtet, diejenigen, die als Bürger gesehen oder akzeptiert sind - die Demokratie allerdings leidet notwendigerweise unter diesem Sicherheitstheater, nicht nur, weil sich durch die Militarisierung nach außen auch eine Militarisierung des Tuns und Denkens nach innen ergibt.

Chance für die Gegenöffentlichkeit

Womöglich entscheidender ist der Verlust der Imagination dessen, was Gemeinschaft sein kann, und der Blick auf die Realitäten in den Gebilden, die wir gelernt haben, als identitätsstiftend zu sehen, den Nationen. Was etwa ist die Bedeutung der "civitas", der Stadtgemeinschaft also? Das ist einer der Ansatzpunkte für eine neue Diskussion über Bürgerschaft , die bei der gerade eröffneten Architektur-Biennale in Venedig in einer Serie von Essays entwickelt wurde.

Hier, in den ganz konkreten Lokalitäten, sehen Denker wie Nancy Fraser, die gerade in Berlin bei einem großen Emanzipations-Kongress aufgetreten ist, die Chance für "Gegenöffentlichkeit", hier kann sich, wie John Holton es nennt, der "Widerstands-Bürger" entwickeln, ein Subjekt also, das seine Rechte nicht von seiner Herkunft ableitet, sondern von seiner Anwesenheit an einem bestimmten Ort und einem bestimmten Kontext, eine politische Kategorie, die die Idee des Bürgers wieder dorthin bringt, wo sie historisch begonnen hat, in der Stadt.

Eine andere mögliche Zuordnung ist die der Region, die durch eine gemeinsame Religion und Kultur - Bayern etwa in Deutschland oder der Bible Belt in den USA - oder durch eine gemeinsame Wirtschaftsentwicklung geschaffen werden kann wie das Ruhrgebiet, durch Geografie oder durch gemeinsame Kämpfe, Katastrophen, ökologische Koordinaten. Als Beispiel dienen hier der Widerstand der Sioux Nation in Standing Rock gegen die Keystone Pipeline  oder die Anti-Atom-Proteste im Wendland.

Mut zu mehr Komplexität

All das schafft Identitäten, die überlappend sind und kompliziert, die stärker sind als die der Nation und dabei offener und flexibler, weniger durch Sicherheitsmaßnahmen umzusetzen und mehr aus der Lebenspraxis entspringend, konkret und damit auf andere Weise politisch - es ist in vielem das, was der britische Autor George Monbiot "a sense of belonging" nennt, also die Rückbindung der Frage nach dem eigenen Ich an eine Geschichte oder einen Ort.

Das identitäre Angebot auf diese oft so benannte Ortlosigkeit, dieses Leben in "Nicht-Orten", wie der französische Marc Augé es genannt hat, ist Homogenität, Zugehörigkeit, kulturelle Übersichtlichkeit, gesellschaftliche Ordnung, Widerstand gegen Emanzipation, Minderheitenrechte, Unterschiede, Genauigkeit - und man wird dem nicht begegnen können, da bin ich sicher, indem man den Diskurs imitiert.

Im Gegenteil: Man sollte auf die Reduktion von Komplexität mit mehr Komplexität reagieren, man sollte offensiv sein und nicht defensiv, wenn es darum geht, die Lebensbedingungen der Menschen heute zu einem Konzept von Bürgerschaft zu verbinden, das auf den Realitäten unserer Zeit beruht. Was ist etwa dieses "Facebookistan", wie Rebecca MacKinnon es nannte, in dem wir leben, bis sich der Konzern entweder zerlegt hat oder eine andere Netzwerkmacht an seine Stelle getreten ist?

Was sind also Netzwerke von Zugehörigkeiten und wie können sie als multiple Identitäten ihre politische Form finden? Das sind, glaube ich, die Probleme, auf die eine progressive Politik eine Antwort finden sollte, mit der Realität und nicht gegen sie, mit der Technologie und nicht gegen sie.

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