
Abschied von Helmut Kohl: Der Tag in Bildern

Helmut Kohl und Europa Wunschdenken und Wirklichkeit

Es gibt die zwei Körper des Herrschers - Grundlage des monarchischen Denkens - auch in der Demokratie. Das wurde besonders deutlich in der Trauerfeier für Helmut Kohl, der wie ein Kaiser nach Speyer geleitet wurde. Idee und Wirklichkeit also, Mensch und höhere Macht, der reale Körper des Herrschers und der symbolische: Es stellte sich die Frage, ob hier nur um einen ehemaligen Kanzler getrauert wurde oder um eine Idee, ob hier nur ein Mensch beerdigt wurde oder eine, seine Vorstellung von Europa.
Die Redner, wie auch die allermeisten Kommentatoren in den Medien, sahen das naturgemäß anders. Sie beschworen die bleibende Macht der Idee der EU, dieser EU, die erst durch den Menschen Kohl in die Wirklichkeit getragen wurde: Eine EU, die beschrieben wurde als eine Antwort auf den Krieg, als ein Produkt des 20. Jahrhunderts, in dem sich Nationalstaaten erst gegenseitig - und vor allem von Deutschland angeführt - furchtbar zerstörten, bevor sie sich zu einem Wirtschafts- und schließlich auch zu einem Politikverbund zusammenschlossen, der für Frieden und Wohlstand sorgen sollte.
Die EU ist aus dem Geist des Krieges geboren
Diese EU aber ist in einer existenziellen Krise, was durchaus mit den Konstruktionsfehlern der Generation Kohl zu tun hat. Und so war das, was die Redner in Straßburg formulierten, zumeist Wunschdenken, Beschwörung einer Vergangenheit, die kein Maßstab dafür sein kann, wie Europa im 21. Jahrhundert aussehen wird. Die Reaktion auf die Wirtschafts- und Finanzkrise seit 2008, die Eurokrise und das Griechenland-Debakel, die Verschuldung einer ganzen Generation, die Massenarbeitslosigkeit in einzelnen Mitgliedsstaaten, die Ratlosigkeit gegenüber dem jahrelangen Sterben in Syrien, die Ratlosigkeit gegenüber der Eskalation in der Ukraine, die Entsolidarisierung während der Flüchtlingskrise, die aggressive Abkehr vom Grundsatz der allgemeinen Menschenrechte an den Außengrenzen, all das hat die demokratischen und anderen Defizite dieser EU aufgezeigt und die Notwendigkeit für eine neue Vision deutlich gemacht.

Abschied von Helmut Kohl: Der Tag in Bildern
Kohls Tod und die so symbolisch überhöhte Trauerfeier, die ja gerade im Moment der Krise das Überleben der EU zelebrieren sollte, könnten die Chance bieten, den Blick aufs Neue zu schärfen. Die Perspektive nach hinten - dankbar für die deutsche Einheit und dabei historisch verklärt - sollte den Horizont der Zukunft nicht verstellen. Diese EU ist in Wesen und Gestalt aus dem Geist des Krieges geboren, des deutschen Weltkrieges und des bipolaren Kalten Krieges, und die Widersprüche dieser Epoche prägen immer noch das Brüsseler Regime, das mit Dirigismus und Zentralismus regiert und dabei seine strukturellen und vor allem legitimatorischen Schwächen nur mühsam überdeckt: das eklatante Demokratiedefizit und die fehlende gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Finanzpolitik sowie eine gemeinsame Schuldenpolitik.
Europa war ein Elitenprojekt
Der französische Ökonom Thomas Piketty - unter anderen, die Reformvorschläge und -debatten dauern ja fast ewig an - hat das alles schon 2014 in einem Manifest mit ein paar Kollegen beschrieben. Die Vorschläge reichen von einer gemeinsamen europäischen Steuerpolitik über eine politische Kammer mit echter demokratischer Legitimation durch den Wähler und echten Kompetenzen bis zu einer gemeinsamen Schuldenpolitik, wogegen sich Deutschland beharrlich stemmt. "Die Debatte über die politischen Institutionen Europas", schreibt Piketty, sei allzu oft beiseite geschoben worden. "Aber wenn wir uns weigern, demokratische Organisationsformen zu schaffen, bedeutet das nur, dass wir die Allmacht von Markt und Wettbewerb akzeptieren und jede Hoffnung aufgeben, dass die Demokratie den Kapitalismus des 21. Jahrhunderts beherrschen kann."
Auch Jürgen Habermas argumentiert schon seit Langem in diese Richtung, wird aber genauso lange von der aktiven Politik ignoriert. Er beschreibt eine Form von "Bürgersolidarität", die im Kern das Europa von morgen ausmachen sollte, eine positive und im Wesentlichen supranationale Vision, was in einem Europa, das sich gerade wieder so destruktiv renationalisiert, eine um so wichtigere Botschaft wäre.
"Stattdessen", schrieb Habermas schon 2011, "beobachten wir aufseiten der Regierungen ein hinhaltendes Taktieren und aufseiten der Bevölkerungen eine populistisch geschürte Ablehnung des europäischen Projekts im Ganzen. Dieses selbstdestruktive Verhalten erklärt sich unmittelbar aus der Tatsache, dass die politischen Eliten und die Medien zögern, die Bevölkerung für eine gemeinsame europäische Zukunft zu gewinnen."
Das Problem ist, wenn man Habermas folgt, dass Europa ein Elitenprojekt war und die Eliten mittlerweile das Vertrauen in den Erfolg dieses Modells verloren haben - während die Bevölkerungen die europäische Realität längst anders und solidarischer gestalten könnten, wenn es nur eine demokratische Möglichkeit dazu gäbe.
Aus der Art und Weise, wie der Tod Kohls zu einem europäischen Akt von symbolischer Größe gemacht wurde, spricht auch das schlechte Gewissen genau dieser Eliten, die an Europa vorbeilavieren und seit Jahren keine gemeinsame Vision erschaffen. Sie sind, auch das zeigte diese Feier, gefangen in alten Bildern und Vorstellungen. Aber nur, wenn sie den Gedanken Europas in die Zukunft verlängern, nur, wenn sie die Anforderungen der Demokratie ernst nehmen, wird es eine europäische Zukunft überhaupt geben.
Ein lokales Europa statt eines Europas der Nationen
Dazu könnte gehören, die Heterogenität Europas als Chance und Stärke zu sehen, weil sich die Unterschiede, die Diversität, der Reichtum der Verschiedenheit als entscheidender Vorteil etwa in der Wissensökonomie des 21. Jahrhunderts erweist: Ein Geist des Experimentierens also, der sich nicht durch nationale Grenzen, Budgets oder Wissensbarrieren beschneiden lässt und auch nicht durch eine Reglementierung, die vor allem als Brüsseler Machtdemonstration funktioniert. Eine größtmögliche Flexibilität in den meisten kleineren Fragen und eine wesentliche Gemeinsamkeit in den wenigen großen Fragen. Eine andere Politik, die nicht nur demokratisch legitimiert ist, sondern in der Umsetzung die jeweiligen Chancen und Schwierigkeiten vor Ort zum Maßstab hat.

Helmut Kohl
Kanzler der Einheit - 1930-2017
Ein lokales Europa, mit anderen Worten, und kein Europa der Nationen. Die Unabhängigkeitsbestrebungen von Schottland etwa oder Katalonien passen in diese Entwicklung, sie sind nicht rückwärtsgewandte Sentimentalität, sondern ein progressiver Versuch, die eigene und damit die europäische Realität neu zu definieren. Auch die Städte gehören zu diesem lokalen Europa, Städte, in denen sich Menschen unterschiedlicher Herkunft mischen, Städte, die Orte des Wissens und des Fortschritts sind, Städte wie Barcelona, wo die Bürgermeisterin Ada Colau die Themen Gentrifizierung, also Eigentum an der Stadt, und Flüchtlinge, also Offenheit für alle, als zentral für die Stadt des 21. Jahrhunderts definiert hat - unter Rückgriff auf die alte europäische Idee, dass Stadtluft frei macht.
Ein anderes Europa als das von Helmut Kohl
Das alles sollte jetzt beginnen, über die Frage nach dem Ende der fatalen deutschen Austeritätspolitik hinaus: Wie kann Europa ein Ort der Menschenrechte werden, an dem Flucht als Herausforderung gesehen wird und nicht vor allem als Problem? Wie kann Europa ein Ort des Wissens und des Fortschritts werden, an dem die digitale Zukunft mit den Mitteln der Demokratie gestaltet wird? Wie kann eine andere Form von Marktwirtschaft gelingen, die Steuerpolitik als Mittel für eine gerechte Gesellschaft sieht und nicht nur als Standortvorteil? Wie kann also, um es mit dem brasilianischen Philosophen Roberto Mangabeira Unger zu sagen, aus der "low-energy democracy" von heute eine "high-energy democracy" für morgen werden?
Es wäre ein anderes Europa als das von Helmut Kohl, keine Frage. Es wäre kein Europa der Vaterländer - sondern ein Europa der Bürger.