
Homosexuelle Paare Idylle im Schatten von Aids

Sheia und Dorothy, Santa Fe (1988)
Foto: Sage Sohier
Doris und Debie mit Junyette, Los Angeles (1987)
Foto: Sage SohierEs ist eine Idylle wie aus dem Familienalbum: Die glücklichen Eltern mit dem Quirl am Küchentisch, vor sich eine Schüssel Teig, Backöl, Milch und eine Schachtel mit Pfannkuchenmix, Marke "Hungry Jack". Die vierjährige Tochter, im Blümchenkleid, hockt voller Vorfreude dabei. Gleich gibt's Frühstück!
Der Ort: San Francisco. Das Jahr: 1987. Die Namen der glücklichen Eltern: Bill und Ric.
Eine Familie bei der Morgenroutine: auf den ersten Blick ein amerikanisches Klischee. Auf den zweiten Blick aber natürlich genau das Gegenteil: Bill und Ric sind ein schwules Pärchen, beide tragen die homosexuelle Uniform jener Jahre - karierte Hemden, fesche Schnäuzer.
Die private Szene ist eine von Hunderten, die die Bostoner Fotografin Sage Sohier in den Achtzigerjahren festzuhalten begann: Schwule und lesbische Pärchen, viele seit Jahren zusammen, verliebt, happy, einander treu - so ganz anders als das Zerrbild jener Ära, das die Szene als promisk, panisch und im Würgegriff von Aids darstellte.
Hinter verschlossenen Türen aber, so zeigen Sohiers einprägsame Schwarz-Weiß-Fotos, bemühten sich die Gays um ein "ganz normales", wenn auch in der Regel heimliches Leben abseits der homophoben Gesellschaft.
Sheia und Dorothy, Santa Fe (1988)
Foto: Sage Sohier"At Home With Themselves: Same-Sex Couples in 1980s America" heißt das fotografische Mammutprojekt, das, nach drei Jahrzehnten, nun endlich als Buch erschienen ist und erstmals auch als Ausstellung in Portland gastierte, demnächst sollen weitere folgen, unter anderem in New York. Sohier nahm es ganz bewusst in Angriff, um Stereotypen auszuhebeln. "Alles, was man damals in der Presse las, waren Berichte über promiske Männer, die an Aids starben", sagt sie SPIEGEL ONLINE. "Doch alle Schwule und Lesben, die ich kannte, waren in Langzeitbeziehungen."
Im Sommer 1986 reiste Sohier - die selbst heterosexuell ist - ins Homo-Mekka Provincetown auf Cape Cod. Sie ging auf die Tea Dances, sprach Pärchen an, verteilte Flugblätter: Ob sie sich zu Hause fotografieren ließen? "Viele waren erstaunlich bereitwillig", sagt sie. Bald weitete sie ihre Suche auf San Francisco aus, Key West, Fire Island, Santa Fe.
Die Pärchen ließen Sohier hinter die Kulissen ihrer nach außen oft verborgenen Existenzen blicken - und offenbarten dabei die gleiche konventionelle Bürgerlichkeit wie Heterobeziehungen: Kitsch, Plüsch, Stilmöbel. Viele Fotos entstanden spontan im Schlafzimmer, auf dem Ehebett: "Hier fühlten sie sich am wohlsten miteinander."
Doris und Debie mit Junyette, Los Angeles (1987)
Foto: Sage SohierSohier interviewte die Fotografierten auch und entlockte ihnen bewegende Geständnisse. Zum Beispiel Bill und Ric, die beiden mit dem Pfannkuchenmix: Seine Tochter Kate habe ihn gefragt, warum er Onkel Bill "dauernd küsst", sagte Bill. Seine Antwort: "Weil ich es mag. Ich liebe Onkel Bill. Ich küsse ihn gerne."
Die durchgehend tiefe Melancholie der Bilder fiel Sohier erst später auf. "Da hing eine Schwere darüber", sagt sie. "Aids warf seinen Schatten auch auf diese behüteten Momente." Etwa Sonny und sein Partner Tony in San Francisco, porträtiert mit Stoffbär und männlichem Pin-Up-Poster: "Aids hat mir riesige Angst gemacht", sagte Tony ihr 1987. "Ich hatte für rund zwei bis drei Jahre keinen Sex mehr."
Einige Paare suchte Sohier 2002 erneut auf, um zu sehen, was aus ihnen geworden war. Lloyd und Joel, 45 und 44 Jahre alt, hatte sie erstmals 1987 in San Francisco fotografiert. "Was Aids angeht, glaube mir - ich habe mehr Angst als sonst wer", sagte Lloyd damals. 2002 waren sie immer noch zusammen, seit 45 Jahren nunmehr. Der üblich schnelle Partnerwechsel der Szene liege ihnen nicht: "Wir empfanden das nie so."
Für Sohier hatte das Projekt aber auch noch eine sehr persönliche Wirkung. Ihr Vater, der die Familie verlassen hatte, hatte nie offen zugegeben, dass er schwul war, obwohl er Liebhaber hatte. Die Fotos der Pärchen, so merkte Sohier, waren ihre eigene Art, sich in ihren Dad hineinzufühlen.
Jahrelang suchte Sohier vergeblich nach einem Verleger. Schließlich, als das Reizthema der gleichgeschlechtlichen Ehe in den USA Fahrt aufnahm, gewannen ihre Fotos einen neuen, tieferen Sinn - als Symbole einer Bewegung, die nach Anerkennung ihrer mondänen Menschlichkeit strebt.
"Unsere Beziehung ist wahrscheinlich die beste Beziehung in der Familie", sagte Alan, den Sohier 1988 und 2002 mit seinem Partner Trip fotografierte. "Wir sind dankbar für das, was wir haben."
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George und Tom, Key West (1987): "Was ich an George attraktiv fand, war seine Persönlichkeit und seine Lebensfreude", sagt Tom. "Er ist sehr jovial und macht gerne Witze."
George und Tom, Key West (2002): "Wir sind älter geworden", sagt George. "Wir haben uns aus der Cocktail-Szene zurückgezogen."
Lloyd und Joel, San Francisco (1987): "Was Aids angeht, glaub mir - ich habe mehr Angst als sonst wer", sagt Joel. "Mein Sex ist so sicher, dass manche es nicht mal Sex nennen würden."
Lloyd und Joel, Stockbridge (2002): "Viele schwule Männer wollen dauernd von einem Partner zum nächsten springen", sagt Lloyd. "Wir empfanden das nie so."
Sue und Shelley mit ihren Kindern, San Carlos (1988): "Mit Sue bin ich absolut, völlig zufrieden, glücklich, ich fühle mich geliebt und ich liebe", sagt Shelley. "Und das habe ich nie zuvor gefühlt."
Sue und Shelley mit ihren Kindern, Belmont (2002): "Vor allem Keshet hat mir eine Million Fragen gestellt", sagt Sue, "warum sie keinen Vater hat und was das bedeutet."
Bill und Ric mit Rics Tochter Kate, San Francisco (1987): "Kate fragte mich gerade heute noch: 'Warum küsst du Onkel Bill dauernd?'", sagt Ric. "Und ich sagte ihr: 'Weil ich es mag. Ich liebe Onkel Bill. Ich küsse ihn gerne.'"
Linda und Nancy, Key West (1988): Wir mussten uns im Sheriff-Büro wirklich beweisen als Polizistinnen", sagt Linda. "Irgendwann wurde ich endlich zur Sergeantin befördert."
Rafael und Chris, San Francisco (1987): "Ich will ihn wie eine Katze behandeln, und ich will ihn streicheln und mich um ihn kümmern", sagt Chris. "Ich muss ihm Platz geben und einsehen, dass er erwachsen ist."
Al und Bud, San Francisco (1987): "Wir haben quasi ein legales Leben, weil ich ihn adoptiert habe", sagt Al. "Wir wollten die juristische Sicherheit, die heterosexuelle Paare auch haben."
Sonny und Tony, San Francisco (1987): "Aids hat mir riesige Angst gemacht", sagt Tony. "Ich hatte für rund zwei bis drei Jahre keinen Sex mehr."
Michael und David, Newburyport (1986): "Ich guckte mir immer wieder den Sears-Katalog an", sagt Michael. "Ich schwör's, das tat ich - die Werbung für Unterwäsche."
Andrew und Patrick, Fire Island (1988): "Am Anfang war es kompliziert, weil er mit jemandem zusammen war und ich auch", sagt Andrew. "Patrick wies mich eine ganze Weile lang ab."
Cynthia und Michele, San Francisco (1987): "Ich will, dass Cynthia mehr Röcke trägt, denn sie ist wunderschön", sagt Michele. "Sie ist eine wunderschöne Frau, und ich will, dass sie hübsch aussieht."
Jean und Elaine, Santa Fe (1988): "Ich identifiziere mich mehr mit Frauen, die älter sind als ich", sagt Jean. "Sie haben ihr Leben ziemlich im Griff und wissen, was sie wollen."
Trip und Alan, Key West (1988): "Wir sind buchstäblich 24 Stunden am Tag zusammen, sieben Tage die Woche", sagt Alan. "Wir arbeiten zusammen und tun alles gemeinsam."
Brian und Hanns, Key West (1988): "Ich bin vielleicht sehr altmodisch", sagt Hanns. "Wenn die Leute sagen 'dein Liebhaber', dann schockiert mich das etwas."
Marty und Rip, New Orleans (1988): "Ein Freund überredete mich, mich für eine Schönheitskonkurrenz hübsch zu machen", sagt Marty. "Ich war 18, und mir gefiel es."
Gordon und Jim mit Gordons Mutter Margot, San Diego (1987): "Ist sie nicht wunderschön?", sagt Jim. "Sie ist 78 Jahre alt und sehr krank, und sie ist einfach... Ich habe sie vom ersten Moment an geliebt."
David und Eric, Boston (1986): "Ich habe jeden gehasst, als ich herausfand, dass Eric Aids hat", sagt David. "Auch Eric."
Herb und Dana, Quincy (1988): "Meine Beine haben uns zusammengebracht", sagt Herb. "Als wir uns am Strand kennenlernten, hatte ich diese enorm kurzen Shorts an."