
Graffitis in Ägypten: Wenn die Toten von den Wänden sprechen
Street Art in Kairo Die Wand gehört dem Widerstand
Die Sicherheitskräfte in Kairo haben derzeit alle Hände voll zu tun: Der Tahrir-Platz, seit über einem Jahr Schauplatz von Demonstrationen, zieht seit der Veröffentlichung des umstrittenen Mohammed-Videos erneut die Massen an. Seit ein paar Tagen jedoch entsteht nur wenige Meter entfernt ein weiterer Sammelpunkt für Demonstranten: In der Mohammed-Mahmud-Straße, wo sich die American University Cairo (AUC) befindet, kämpfen junge Aktivisten um die Freiheit im Land - und um das Andenken an Menschen, die während der Proteste seit dem Frühjahr 2011 ihr Leben im Kampf um ein neues Ägypten verloren.
An der "Mauer der Märtyrer", die den Campus der AUC umgibt, schlendern heute täglich Touristen entlang. Von der rohen Steinwand blicken überlebensgroße Porträts junger Männer auf die Passanten herab. Einige Malereien sind in schlichtem Schwarzweiß gehalten, andere leuchten in bunten Farben. Schwarze Binden fassen die gemalten Männer ein. Und einige von ihnen tragen Engelsflügel.
Ammar Abu Bakr und Alaa Awad, zwei aus Luxor stammende Künstler, haben hier jenen Menschen ein Denkmal gesetzt, die bei den berüchtigten Ausschreitungen in Port Said ums Leben kamen. Am späten Abend des 1. Februar waren dort 74 Menschen gestorben. Sie wurden erstochen, erschlagen, erstickt oder zu Tode getrampelt im Fußballstadion der Hafenstadt.
In Kairo schleuderten die Menschen tags darauf Steine, rissen Barrikaden und Stacheldrahtzäune nieder, hinter denen sich Polizisten verschanzten - die Demonstranten sannen auf Rache. Die Polizei habe in Port Said nur zugesehen, hieß es. Schlimmer noch: Sie habe die Krawalle provoziert. Während beißendes Tränengas über den Tahrir-Platz zog, liefen Ammar Abu Bakr und Alaa Awad durch die angrenzende Mohammed-Mahmud-Straße. Auch sie dachten an die Menschen, die im Stadion zu Port Said ihr Leben gelassen hatten. Also tauchten sie ihre Pinsel in Farbeimer - und begannen zu malen.
Rückeroberung des öffentlichen Raums
Angehörige und Freunde der Opfer kamen, um vor den Porträts zu beten, sie hatten den Künstlern auch die Fotos gebracht, die diese innerhalb von drei Tagen und Nächten an die Steinwand malten. Doch am Dienstag letzter Woche wurde das Denkmal beschädigt: Einige großflächige Porträts wurden übermalt.
Ein Sturm der Entrüstung entbrannte, als die Nachricht sich über Facebook und Twitter verbreitete: Nur einen Tag später kamen über 150 Menschen zusammen, um gegen die Zerstörung zu protestieren - nicht mit Sprechchören und Drohungen, sondern mit Sprühdose und Farbeimer bewaffnet. Wo die Porträts verschwunden waren, entstehen nun neue Kunstwerke. "Gegen die Kampagne zur Vernichtung der Graffiti" ist unter den neu entstehenden Graffiti nun zu lesen, und "Wischt mich ruhig ab, ihr Feiglinge". Auf wessen Konto die verschwundenen Graffiti und Märtyrer-Porträts gehen, ist bislang unklar.
"Die neue ägyptische Graffiti-Kunst steht für mehr als nur für das Gedenken an die Getöteten oder für das Verbreiten politischer Slogans: Die Ägypter erobern sich den öffentlichen Raum zurück", sagt Soraja Morajef. Die in Kairo lebende Journalistin und Bloggerin dokumentiert seit mehr als einem Jahr, wie sich das Straßenbild der ägyptischen Hauptstadt nahezu täglich verändert.
Auf die Porträts der Getöteten von Port Said folgten Graffiti, die die ägyptische Protestbewegung thematisieren. Revolutionäre Slogans und Karikaturen der Präsidentschaftskandidaten säumten bald die Mohammed-Mahmud-Straße. Morajef hält das auf ihrem Blog Suzeeinthecity akribisch fest: Wo neue Bilder entstehen. Wie und von wem sie verändert und verfremdet werden.
Wettstreit um die Deutungshoheit auf Kairos Straßen
Nicht nur die Mauer an der Mohammed-Mahmud-Straße ist seit dem vergangenen Frühjahr eine öffentliche Leinwand: Auch das Mugamma-Gebäude, Sitz der Verwaltung am Tahrir-Platz und architektonischer Inbegriff des bürokratischen Staatsapparats unter Mubarak, zeugt von der Rückeroberung des öffentlichen Raumes.
Künstler und Aktivisten nutzen die mächtigen Außenwände des Verwaltungsbaus, um das aktuelle Geschehen im Land zu kommentieren. Ein Beispiel aus dem März dieses Jahres: Ein Militärarzt stand vor Gericht, er hatte unter anderem die Aktivistin Samira Ibrahim zu einem sogenannten Jungfrauentest gezwungen. Die junge Frau klagte gegen den brutalen Eingriff, schon Ende vergangenen Jahres gab ihr ein Gericht in Kairo Recht. Doch der Arzt wurde wenige Monate später freigesprochen.
Die Reaktion der farbigen Protestbewegung ließ nicht lange auf sich warten: Am 12. März, einen Tag nach dem Freispruch, prangte Ibrahims Konterfei an der Fassade des Verwaltungssitzes. Mit ernstem und entschlossenem Blick schaut sie in dem Schablonen-Graffiti über eine Gruppe von Soldaten hinweg - die alle mit dem Gesicht des freigesprochenen Arztes dargestellt sind.
Auch während der Präsidentschaftswahlen im Juni mischten die Straßenkünstler mit: Ahmed Schafik, früherer Vertrauter Mubaraks und Kandidat in der Stichwahl um das Präsidentenamt, wurde aufgrund seiner Nähe zum Militär und zum alten Regime Motiv unzähliger Graffiti. Doch bei ihm stießen die Graffiti-Aktivisten auf Widerstand: Polizisten und Anhänger Schafiks übermalten oder verfremdeten die Malereien. Zwischen den Aktivisten und den Aufpassern Schafiks entwickelte sich ein regelrechter Wettstreit um die Deutungshoheit auf Kairos Straßen .
Ob Solidaritätsbekundung mit Regime-Kritikern wie Samira Ibrahim oder Herabsetzung des Militärs durch Malereien an einem staatlichen Gebäude - die Graffiti zeugen von einem neuen Selbstbewusstsein der ägyptischen Öffentlichkeit, das in den vergangenen Monaten stetig gewachsen ist.
Zentraler Ort dafür ist die AUC, an deren Außenwand die ersten Malereien entstanden. Die Universitätsleitung zeigte sich anfangs wenig erfreut darüber, dass der Campus zur öffentlichen Leinwand wurde - ausgerechnet in der Zeit des politischen Umbruchs in Ägypten. Doch nur wenige Monate später gab die Universität der öffentlichen Begeisterung für die Graffiti nach.
"Scharia ujun al-hurrija" nennen die Ägypter die Mohammed-Mahmud-Straße mittlerweile - Straße der Augen der Freiheit. Eine Freiheit, für die kontinuierlich gekämpft werden muss, wie die vergangenen Woche gezeigt haben.