Schullektüre auf der Bühne Kafka im Hobbitland

Der Regisseur Antú Romero Nunes inszeniert im Hamburger Thalia Theater "Das Schloss" nach dem Roman von Franz Kafka - und konfrontiert die Zuschauer mit ebenso ulkigen wie fremdenfeindlichen Spukgestalten.
In Antú Romero Nunes' Version von Kafkas "Das Schloss" haben die Figuren fette Schenkel, hängende Wampen und verlieren sich meist im Ungefähren.

In Antú Romero Nunes' Version von Kafkas "Das Schloss" haben die Figuren fette Schenkel, hängende Wampen und verlieren sich meist im Ungefähren.

Foto: Armin Smailovic

In seiner berühmtesten Erzählung schildert der Schriftsteller Franz Kafka, wie ein Mann beim morgendlichen Erwachen feststellen muss, dass er sich über Nacht in ein "ungeheures Ungeziefer", einen Käfer, verwandelt hat. In der besten Szene des Kafka-Abends "Das Schloss" im Hamburger Thalia Theater kann man nun dem Schauspieler Mirco Kreibich dabei zusehen, wie er zu einem Spinnentier mutiert. Nackt bis auf die Unterhose liegt Kreibich rücklings auf seinem Nachtlager, streckt erst zappelnd Finger und Zehenspitzen in die Luft und biegt dann die Wirbelsäule zu einem spektakulären Hohlkreuz durch. So, mit himmelwärts gerecktem Geschlecht und grotesk verdrehtem Rücken, setzt sich der Mann auf allen vieren in Bewegung und tapert durch einen finsteren, mit riesigen Wachttürmen zugestellten Raum.

Der beinahe nackte, sensationell biegsame und muskulöse Schauspieler Kreibich spielt den Landvermesser K. in den letzten 15 Minuten der Theaterinszenierung "Das Schloss", die der Regisseur Antú Romero Nunes in Hamburg herausgebracht hat. In den 85 Minuten zuvor ist die Hauptrolle des Herrn K. anders besetzt: Da wird K. verkörpert durch sämtliche Theaterzuschauer im Raum, wird das Publikum frontal angeschnauzt und umschmeichelt von einer merkwürdigen Rasselbande aus Gnomen und Monstern.

"Das Schloss", der fast ein Jahrhundert alte, nicht vollendete Roman von Franz Kafka (1883 bis 1924), dient hier als meist brav originalgetreu zitierte Vorlage. Erzählt wird darin die Geschichte des Landvermessers K., der in einem verschneiten böhmischen Dorf ankommt. Über die Geschicke des Dorfs bestimmt ein ominöses Schloss, dessen Beamte man kaum je zu Gesicht bekommt. Im Dorf werden Fremdlinge barsch abgewiesen, der beharrliche K. aber bekommt immerhin bestätigt, dass man ihn angefordert hat, und findet in einer jungen Frau namens Frieda für eine Weile auch eine Gefährtin. Ausgeschlossen bleibt er trotzdem: "Sie sind nicht aus dem Schloss, Sie sind nicht aus dem Dorfe, Sie sind nichts."

"Gastfreundschaft ist bei uns nicht Sitte"

Der Regisseur Antú Romero Nunes ist 34 Jahre alt und eher für spielvernarrte, fröhlich die Schauspieler zur Improvisation anstiftende Inszenierungen bekannt als für strenge intellektuelle Konzeptarbeit. Im Fall von "Das Schloss" bringt er beides zusammen. Er lässt seine Schauspieler die Zuschauer ansprechen und anbrüllen, als verkörperten die Menschen im Parkett den Helden K. "Hey, Sie können hier nicht schlafen", heißt es zum Beispiel, "niemand darf hier ohne die Erlaubnis des Schlosses wohnen oder übernachten." Oder: "Gastfreundschaft ist bei uns nicht Sitte." Vortragen lässt der Regisseur diese Sprüche von lauter Bühnendarstellern, die in grotesken, von Victoria Behr gelieferten Fettwanst-Kostümen stecken, schauerlich bleich geschminkt sind und scheußlich verfilzte Haare tragen. Das Kafkasche Schloss steht in Hamburg offenbar mitten im Hobbitland des Erfolgsschriftstellers J. R. R. Tolkien.

Es ist ein charmanter Einfall und sehr lustig anzusehen, wie sieben Schauspieler, unter denen Lisa Hagmeister, André Szymanski und Kreibich die aufgekratztetsten sind, hier als gruselig deformierte Dorfdeppengestalten herumturnen. Das Programmheft verspricht, man wolle den in vielen Schulen zur Pflichtlektüre gehörenden Roman hier mal nicht als Metapher für die Hilflosigkeit des Einzelmenschen gegenüber der Behördenwillkür nacherzählen. Stattdessen werde man "ganz nah rangehen und genau hinsehen". Aber stimmt das wirklich? Auf der Bühne bleibt fast alles auf heiterer Distanz und im Ungefähren. Schrullige Figuren mit fetten Schenkeln, hängenden Wampen und glotzenden Visagen veranstalten eine Party, führen Zaubertricks mit brennendem Papier vor und jagen sich, über ihre angepappten Fleischringe stolpernd, im Kreis.

Das allermeiste Traumtheater ist vom Einschläferungstheater nur einen Tippelschritt entfernt. Schon bei Kafka liest man: "K. hatte ein kleines Weilchen in einem halben Schlummer verbracht, nun war er wieder aufgestört. Warum dies alles? Warum dies alles?" Dem Zuschauer geht es in Antú Romero Nunes' munterem Gruselmärchenland ähnlich.

Vermutlich hat der Regisseur das Erlahmen seiner Hobbit-Idee während der Proben bemerkt. Deshalb lässt er in der Schlussviertelstunde sämtliche Darsteller ihre Kostüme abwerfen und in Unterwäsche spielen. Die Geschichte des Landvermessers K. beginnt von Neuem, diesmal mit einer aufs Symbolische skelettierten Handlung und mit Kreibich als Hauptakteur. Nun ist er also doch der hilflose Einzelmensch. Wir sehen K. zwischen den Wachtürmen umherstreifen, seiner abtrünnigen Gefährtin hinterherklettern und schließlich als Christus-ähnlichen Märtyrer im Schneegestöber bibbern. Es ist das überdeutliche Schlussbild einer durchaus sympathischen, aber schwer konfusen Inszenierung. Herr K. ist ein Flüchtling, den die Welt in Schnee und Eis stehen lässt, mitten im kalten Winter, wohl zu der halben Nacht. Merkwürdige Verwandlung.


"Das Schloss". Thalia Theater Hamburg , nächste Vorstellungen am 5., 10., 11. und 29.6., Tel. 040/32 81 44 44.

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