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Interview Project Germany Mit den Lynchs durchs Land

Wie war meine Jugend? Worauf bin ich stolz? Die US-Filmemacher Austin Lynch und Jason S. sind vier Wochen lang durch Deutschland gereist und haben ganz normale Menschen befragt. Entstanden sind 50 ergreifende Videoporträts - anmoderiert von Regisseur David Lynch und präsentiert von SPIEGEL ONLINE.

David Lynch

Es sind einfache Fragen, die Jason S. und Austin Lynch - Sohn des Filmemachers - auf dem Herzen haben: Wie war meine Kindheit? Wie würde ich mich selbst beschreiben? Gibt es etwas, das ich bereue? Was war das einschneidendste Erlebnis in meinem Leben? Wie war meine Jugendzeit? Worauf bin ich stolz? Wie ist mein Erwachsenenleben bisher gelaufen? Wie würde ich gern in Erinnerung bleiben?

Dokumentarfilmer

Mit diesem Fragenkatalog fuhren die beiden amerikanischen im Oktober 2010 durch Deutschland. Vier Wochen lang kurvten sie mit ihrem Team über die Landstraßen, durch die Dörfer, Kleinstädte und Metropolen zwischen Lübeck, Potsdam, Bonn und Regensburg. Eine feste Route hatten sie nicht. Sie entschieden nach Gefühl, wohin es als nächstes gehen sollte. Ebenso hielten sie es bei der Auswahl ihrer Interviewpartner: Sie sprachen an, wen sie auf dem Weg trafen und interessant fanden. "Die meisten Leute, die wir fragen, sind sofort einverstanden und machen mit - wenn sie richtig ausgewählt sind", sagte Austin Lynch im Interview mit SPIEGEL ONLINE.

2009 waren Lynch und Jason S. bereits 70 Tage lang durch die USA gereist, um landauf, landab wildfremde Menschen mit ihren einfachen, aber grundsätzlichen Fragen zu löchern. Herausgekommen ist das "Interview Project"  - ein berührendes Panoptikum jener US-amerikanischen Gesellschaft, die sonst wenig bis gar nicht zu Wort kommt. Senioren, Ex-Häftlinge, Gelegenheitsjobber oder einstige Hippies sprechen über ihr Leben, über ihre Erinnerungen, schütten unvermittelt ihr Herz aus oder lassen nur zaghaft durchblicken, was in ihrer Kindheit oder in ihrer Ehe schiefgelaufen ist, was sie glücklich macht, wie sie sich Mut machen.

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Interview Project Germany: Porträts aus den Nischen der Republik

Foto: Absurda/ red onion

Dabei hatten die beiden Dokumentarfilmer keineswegs die Absicht, sich auf die Ränder der Gesellschaft zu fokussieren. Es ergab sich einfach "aus dem Setting", so Austin Lynch: Die Suche nach ruhigen Orten und Leuten, die spontan ein Stündchen Zeit übrig haben, trieb sie immer wieder in ländliche Gebiete, in dünn besiedelte Vorstädte, in die geografischen und oft auch sozialen Nischen der Gesellschaft.

Auch bei der Arbeit am Interview Project Germany  landeten die beiden US-Amerikaner, begleitet von der deutschen Dokumentarfilmerin Judith Keil, vorwiegend in der Provinz. In Schwichteler im Landkreis Cloppenburg zum Beispiel sitzt die 25-jährige Nadine, Mutter eines einjährigen Sohnes, neben dem mit einer riesigen HSV-Raute dekorierten Garagentor und berichtet: vom Vater (Fernfahrer), von der Mutter (Putzfrau), von der Trennung der Eltern, vom neuen Partner der Mutter ("Komm mit dem Mann nicht klar"), von der ungewollten Schwangerschaft, von der Angst um das Frühchen. "Ich würd' ihn nie wieder hergeben", sagt sie am Ende des kurzen Interview-Clips. "Er ist mein Ein und Alles."

Schlaglichter auf eine andere Form der Kommunikation

Oder Fadilj, der Mann aus dem Kosovo, von dem man erst nur die Wollmütze und das freundliche Gesicht sieht und erst im zweiten Bild den Rollstuhl, mit dem er die hügelige Landstraße entlangrollt. "Arbeitsunfall", erklärt er trocken. Drei Jahre Krankenhaus, später Depressionen, irgendwann hat er sich damit abgefunden. "So wie die Sache kommt, muss der Mensch das annehmen", sagt er in gebrochenem Deutsch. "Bin auch zufrieden so."

Das Rohmaterial von 30 bis 40 Minuten pro Interview haben die beiden Filmemacher im Schnittraum zu fünfminütigen Videos verdichtet. Vieles bleibt im Dunkeln, vieles nur angedeutet und unvollständig. Doch gerade in der Kürze liegt der Charme: Zurechtgestutzt auf das im Facebook- und YouTube-Zeitalter übliche Clip-Format funktionieren die Interview-Porträts von Austin Lynch und Jason S. wie eine Antithese zum Web-2.0-Entertainment-Zwang. Neben all den Spaßclips und Spektakelschnippseln, die uns Normalität als Abfolge lustiger, greller Episödchen vorführen, wirken die "Interview Project"-Clips wie wie Schlaglichter auf eine andere, vergessene Form der menschlichen Kommunikation. "Viele Leute haben uns ihr Herz ausgeschüttet - manchmal hat es sich so angefühlt, als hätten sie nur auf uns gewartet", berichten die Filmemacher.

50 Interview-Clips umfasst das "Interview Project Germany", ab dem 10. März werden sie nach und nach auf der Website  des Projektes veröffentlicht - nonchalant anmoderiert von Daddy David. Los geht es mit Luci aus Neubrandenburg, die im Schrebergarten ihrer Eltern sitzt und über ihre burschikose Jugend, ihre beiden Ehen und über die Wende reflektiert. Bis Ende März erscheinen zwei neue Clips pro Woche auf der Website des Projekts, danach wöchentlich ein Interview pro Woche - bis zum Jahresende 2011. Auch bei SPIEGEL ONLINE werden die Filme im Wochenabstand zu sehen sein.

Ein neue Art der Reality Show, wenn man so will. Nur dass es bei Austin Lynch und Jason S. weder Kandidaten noch Aufgaben gibt und auch keine Gags oder Schockeffekte. Einfach nur Menschen, die über die Schwierigkeiten und die Freuden berichten, die ihnen das Leben bereitet.

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