Rechtes Denken im Pop Eine Art Endkampf

"Atemlos durch die Nacht" zeuge von Pop, der von nichts gewusst haben will, während die Gesellschaft nach rechts rückt - der Kulturpublizist Georg Seeßlen reiht in seinem neuen Buch steile Thesen aneinander. Überzeugend?
Helene Fischer 2017 beim "Bambi"-Auftritt

Helene Fischer 2017 beim "Bambi"-Auftritt

Foto: Jˆrg Carstensen/ picture alliance / Jˆrg Carstens

Einst transportierte Pop Freiheitsversprechen. Die Musik sollte einen wegführen vom Starren und Begrenzten, hin zum Offenen. Bob Dylan, später dann Punk und, partiell, selbst noch Techno: Immer wurde behauptet, dass ein gutes, freies Leben möglich ist - als radikaler Eigensinn, als Negation, als weltverliebter Hedonismus. Misst man Pop nach wie vor an diesen Versprechen, zeugt der Erfolg von konservativen und rechten Pop-Ästhetiken, den der Kulturpublizist Georg Seeßlen in seinem neuen Buch "Is this the End" konstatiert, von einem großen Verlust.

Es sei nicht weniger als "eine Art Endkampf um die Hegemonie im Pop" entbrannt, schreibt Seeßlen. Gegeneinander treten an: die utopischen Restbestände, der Pop der neuen Rechten und der "Pop eines Mainstream, der mit Gewalt zur Indifferenz drängt und schon jetzt von nichts gewusst haben wird" - Letzterer wird in "Is this the End?" vor allem verkörpert durch Helene Fischer, neben dem Philosophen Antonio Gramsci die am häufigsten erwähnte Person dieses Buchs. Ein Lied wie "Atemlos" enthält laut Seeßlen kein Versprechen auf ein besseres Leben mehr, sondern erzählt davon, dass "man zugleich erotisch-abenteuerlich und bürgerlich-kontrolliert ('angepasst') sein kann".

Die Passagen, in denen Seeßlen den zunehmenden Erfolg einer rechten Pop-Ästhetik theoretisiert, gehören zu den klärendsten des Buches. Rechts heißt hier nicht "rechte Parolen" - sondern zuerst nur die komplett humorbefreite Feier des Bestehenden, die sich im Einklang mit der Herrschaft weiß.

Von der eigenen gefühlten Gängelung zehren

Die zentralen Charakteristika des Pop werden in diesem Sinne besetzt und verwandelt. Das Versprechen auf Freiheit und Ungebundenheit scheint nicht mehr allzu glaubwürdig zu sein. In die Leerstelle rückt beispielsweise das Versprechen auf eine widerspruchsfreie nationale Identität. "Dass sich eine Gruppe wie Frei.Wild schon im Namen gleich zwei Begriffe unter den Nagel reißt, mit denen Rock'n'Roll einst magisch verbunden war, und dass sie diese Verbindung dann noch in einen heimatlich-völkischen Kontext rückt, könnte man als semantische Meisterleistung betrachten", schreibt Seeßlen. "Oder als Höhepunkt allgemeiner Verblödung, wie man es nimmt."

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Seeßlen, Georg

Is This the End?: Pop zwischen Befreiung und Unterdrückung (Critica Diabolis)

Verlag: edition TIAMAT
Seitenzahl: 224
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08.06.2023 06.40 Uhr

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Der Erfolg von Frei.Wild hat ein Lebensgefühl zur Voraussetzung, das von der eigenen gefühlten Gängelung zehrt. Starre Identität als Antwort auf - na ja, auf was auch immer. Man weiß nicht so recht, worunter genau diese Leute leiden und ob überhaupt. Laut Seeßlen wiederum ist das Erstarken der Rechten das Symptom, der Neoliberalismus gleichsam der Endgegner - als die Form des Kapitalismus, die immer mehr Menschen in ständiger Unsicherheit hält und sie bis ins Innerste zu marktförmigen Subjekten formen möchte, statt nur schlicht ihre Arbeitskraft auszubeuten.

"Ohne Klassenstolz, ohne Klassenorganisation"

Zum Prekariat gehört nach Seeßlen in ökonomischer Hinsicht dann der freischaffende Popkritiker genauso wie die Bäckereiverkäuferin. Kulturell getrennt blieben sie, obwohl sie materiell in einer ähnlichen Lage sind. Unter anderem weil die eine, zum Beispiel, Helene Fischer und der andere zum Beispiel Animal Collective hört.

Eine Fragmentierung, die Beherrschbarkeit schafft: Das Prekariat definiert Seeßlen als "Klasse ohne Klassenbewusstsein, ohne Klassenstolz, ohne Klassenorganisation", eine Ansammlung von Individuen, die sich über kulturelle Vorlieben definiert - "die Erfüllung der feuchten Träume von Neoliberalen und Rechtspopulisten gleichermaßen". Man kann das Prekariat wesentlich leichter ausbeuten als Menschen, die sich miteinander über kulturelle Unterschiede hinweg solidarisieren.

So weit ist das alles nachvollziehbar. Nur wäre es erhellender, wenn diese Thesen argumentativ ausgeführt würden, anstatt vor allem gesetzt. Georg Seeßlen hat mit einer Vehemenz Sätze auf die Seiten gebrettert, die in der gern ironisch abgesicherten Popkritik nur selten zu finden ist. Die Familien heute sind "verunsicherte Scherbenhaufen", "wir amüsieren uns, indem wir die Welt töten", und in den "Bibi und Tina"-Filmen tropft "das Grauen der Indoktrination aus jeder Einstellung". Das erzeugt zuerst den Eindruck von Dringlichkeit, auf lange Strecke dann aber ein indifferentes Grundrauschen.

Nach wirklicher Auseinandersetzung verlangen

Einen ähnlichen Effekt kann die an manchen Stellen fehlende Sorgfalt haben, wenn es um Namen und Zitate geht. Beth Ditko heißt Beth Ditto, Yello Biafra nennt sich eigentlich Jello Biafra, und die Beatles wollten es "in the road" tun und nicht "on the streets". Wenn die Kleinigkeiten nicht stimmen, sind die großen Thesen vielleicht auch nicht durchgearbeitet.

Das mag stimmen, einerseits. Andererseits schreibt Seeßlen aber ohnehin in einer Weise, die gar nicht im engeren Sinne überzeugen will, sondern nach wirklicher Auseinandersetzung verlangt. Ein Angebot, Gedanken mitzudenken, die hier sozusagen ohne Geländer entfaltet werden. Verborgen hinter den kompromisslosen Sätzen wirkt eine Lust am dialektischen und das heißt hier eben auch am spielerischen Denken. Man läuft los, mit einem ganzen Ensemble von Widersprüchen im Gepäck, und schaut, wo man mit einer starken These ankommt, im besten Fall, ohne dass es sie aus der Kurve trägt.

"Is this the End?" ist so auch eine Aufforderung zur Repolitisierung des Nachdenkens über Popkultur. Ach, und zur Beantwortung der titelgebenden Frage: "Es gibt auch in der Popkultur und ihrer Geschichte keine Alternativlosigkeit", schreibt Seeßlen. Also nein: Das Ende ist noch nicht in Sicht.

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