Fotostrecke

Japan: Was kommt nach dem Sterben?

Foto: Kimimasa Mayama/ dpa

Japan und der gesellschaftliche GAU Gefangen im Zwischenreich des Todes

Niemand ist unverwundbar, auch keine Hochtechnologie-Gesellschaft: Das moderne Japan verliert das Vertrauen in seine Sicherheitsversprechen. Doch kann eine neue Wertordnung auf dem Fundament von Fukushima erbaut werden? Das fragt sich der Katastrophenforscher Willi Streitz in einem Essay.

Erdbeben, Tsunami und drohende Kernschmelze, Hunger, Kälte und Obdachlosigkeit, gefangen inmitten verwüsteter Regionen, die einmal Heimat waren: Alle Mächte scheinen sich gegen die Japaner verschworen zu haben. Und der Schnee wirkt, als habe auch noch der nukleare Winter beschlossen, sich mit den Naturgewalten zu verbünden, um Mensch und Seele zu quälen.

Die Lebenden zwischen den Leichenbergen sind in eine unwirkliche, unwirtliche Zwischenwelt geraten. Japan ist gestrandet an den Ufern des Styx, in der griechischen Mythologie die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und Toten, wo jene auf ewig bleiben müssen, die den Obolus für den Fährmann Charon nicht bei sich haben.

Fast scheint es, als könnten auch jene, die bezahlt haben, die Ufer nicht verlassen, weil Charon den Dienst eingestellt hat. Der sonst so verlässliche Fährmann kommt nicht mehr. Man steckt fest im Zwischenreich, kann weder vor in den Hades noch zurück in das alte Leben. Selbst Begräbnis und Totenweihe verlaufen ohne Regeln.

Nicht nur die furchtbare Wucht der bebenden Erde und des Tsunamis schüttelten und spülten die Menschen in diese Welt zwischen den Welten. Fast scheint es, als habe man in Japan geglaubt, durch ein Bad im Styx unverwundbar zu sein. Alles war da: eine hervorragende Erdbebenvorsorge, ein sehr guter Küstenschutz, ein gutes Warnsystem, sichere Kernkraftwerke und vor allem die Familie. Nun ist man gefangen im Zwischenreich. Erlösung auf die eine oder andere Weise ist unmöglich. Kein Weg führt zurück ins Leben, und ob der Fährmann seinen Dienst wieder aufnehmen wird, bleibt ungewiss.

Der Weg ist nicht nur den Einzelnen versperrt, deren Angehörige und Freunde der Tsunami verschlang. Er ist der ganzen japanischen Gesellschaft vorerst verschlossen. Die entsetzlichen Prozesse, die im sozialen Gefüge schon jetzt und im Angesicht des Sterbens stattfinden, werden nicht einfach, wenige Wochen nachdem die schrecklichen Bilder von den Bildschirmen verschwunden sind, ihr Ende finden.

66 Jahre nach Weltkriegsende: Trost vom Tenno

Die Anzahl der Toten und Vermissten wird im aktuellen OCHA-Report der UN mit 21.911 angegeben. Die Zahl der Personen in Evakuierungszentren liegt zur Zeit bei gut 350.000. Noch wissen wir nicht, welche Familien gar in Gänze verloren sind, welche Familien die nächste Generation verloren haben - und wie viele wegen möglicher genetischer Risiken vielleicht sogar auf Nachkommen verzichten werden. Auch gibt es bisher keinen Überblick darüber, welche Kulturgüter unwiederbringlich verloren sind - und was all dies auch dann noch für die japanische Kultur bedeutet, wenn die Wirtschaft des Landes sich längst wieder erholt hat.

Wir erleben derzeit eine Erschütterung, die wahrscheinlich einen tiefgreifenden Wandel der japanischen Gesellschaft einleiten wird. Dafür spricht auch die erste öffentliche Ansprache eines Tennos seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Hier wird versucht, Vertrauen zurückzugewinnen, damit Trost glaubhaft gespendet werden kann.

Schon jetzt spüren wir auch hierzulande Auswirkungen dieser Erschütterung. Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach in Bezug auf Japan von einer Apokalypse. Sie wird wohl Untergang, Grauen und Unheil gemeint haben. Ob Sie auch an ein schreckliches Weltende und die Offenbarung des Neuen dachte, wissen wir nicht. Der politische Schock geht jedenfalls tief. Das Verantwortungsgeschiebe in der Atompolitik hierzulande setzte mit den entsetzlichen Bildern aus Fukushima unmittelbar ein. Die intellektuelle Verarbeitung und Bewältigung ertrinkt in der medialen Bilderflut. Der iconic turn verführt zu selektiven Vereinfachungen, die der Komplexität, Rapidität und Radikalität der Ereignisse nicht angemessen sind.

Die politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Kriterien der Bewertung sind konfliktträchtig. Eine wissenschaftlich abgesicherte und (welt-)gesellschaftlich anerkannte Beweisführung fehlt. Die potentiell universelle Betroffenheit, der kollektive Charakter der Gefahr wirft grundsätzliche Fragen auf. Die subjektive Wahrnehmung von Risiken war und ist keine Störgröße. Japan und der Welt wird dies derzeit nachhaltig nahe gebracht.

Der Eid der Götter ist gebrochen

Als Thetis ihren Sohn Achilles in den Wassern des Styx badete, hielt sie ihn an seiner Ferse. Genau dort war der Unverwundbare später verwundbar. Der japanische Name der Achillesferse lautet nun Fukushima. Manche schwätzen die Ferse, die Verletzlichkeit, als Restrisiko klein, so dass ein weiterer Hinweis auf den Mythos möglich wird: Das Wasser des Styx galt als giftig. Sein Gift hatte die Risikokommunikation der Moderne längst erreicht. Denn im Zweifel ist Risiko die Menge möglicher ideeller und materieller Verluste, die bei einer unsicheren Unternehmung zu jeder Zeit realisiert werden kann oder umgangssprachlich, alles, was auf dem Spiel steht. Das war, ist und bleibt so.

Worauf immer die moderne Industriegesellschaft Japan schwor, das Vertrauen in daraus resultierende Sicherheitsversprechen ist dahin. Niemand kann jemals ohne Sorge sein. Der heiligste Eid - die olympischen Götter schworen ihn "beim Styx" - ist gebrochen. Dies wird nicht folgenlos sein. Politik und Verwaltung werden sich auf mehr Fragen einstellen müssen. Die Projekte von Ökonomie und Politik werden stärker hinterfragt werden. Legitimitätsprobleme werden größer und die Technikakzeptanz könnte sinken.

In der bitteren Realität fehlt es am Notwendigsten: Nahrung, Wasser, sanitäre Einrichtungen, Decken und Unterkunft. Reichlich vorhanden sind dagegen reale Ängste, Sorgen und Nöte, die der Welt in einer nicht enden wollenden Bilderflut dargeboten werden. Die anhaltende Bedrohung lässt keinen Heilungsprozess zu. Die Wunden bleiben offen. Welche posttraumatischen Belastungsstörungen werden auf Einzelne, Familien, Gemeinschaften und die gesamte japanische Gesellschaft zukommen? Dass man sich nichts anmerken lassen will, bedeutet nicht, dass da nichts ist.

Manche Erschütterungen der japanischen Kultur, die jetzt stattfinden, werden langfristige, sogar übergenerative Wirkungen haben. Die Welt starrt wie das berühmte Kaninchen auf die berühmte Schlange, auf die Wirkungen in der physikalischen Welt. Sie wird uns geistreich von Experten erklärt, damit wir nichts falsch verstehen. Zugleich bleibt das Drama in der sozialen und kulturellen Welt unerklärt. Einzelne, Gemeinschaften und Kultur bleiben ihrem Schicksal überlassen.

Wie wird sich ein Volk entwickeln, dass womöglich für die nächsten 100.000 Jahre der Rolle des Strahlungswächters für das gerade entstehende Endlager Fukushima nicht entkommen kann?

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten