Attentate von psychisch Kranken "Primitivierung des Denkens"

Die Attacke auf die Kölner Politikerin Reker, der Mord an Jo Cox: Angriffe psychisch auffälliger Menschen scheinen sich zu mehren. Psychiaterin Nahlah Saimeh über den Zusammenhang von Politik und Wahn.
Kondolierende vor Cox-Porträt in Batley

Kondolierende vor Cox-Porträt in Batley

Foto: OLI SCARFF/ AFP
Zur Person
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Nahlah Saimeh ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie mit dem Schwerpunkt forensische Psychiatrie und Ärztliche Direktorin im LWL-Zentrum für Forensische Psychiatrie Lippstadt. Als forensische Gutachterin erstellte sie Gutachten über psychisch Kranke Straftäter.

SPIEGEL ONLINE: Frau Saimeh, der mutmaßliche Mörder der britischen Parlamentarierin Jo Cox soll "Britain First" gerufen haben, als er sie tötete. Am nächsten Tag hieß es, der Mann sei psychisch krank. War das jetzt eine politische Tat oder die Tat eines kranken Mannes?

Saimeh: Um das sicher zu beurteilen, fehlen mir die Informationen. Es kann ja auch beides sein, der Täter kann sowohl psychisch krank sein und - davon unabhängig - radikale politische Ansichten vertreten. Es ist aber grundsätzlich auch denkbar, dass zum Beispiel eine Schizophrenie oder wahnhafte Störung diesen Mann erst zu einem Angreifer hat werden lassen. Und Denkinhalte psychisch kranker Menschen werden eben auch durch gesellschaftliche Themen und Debatten beeinflusst.

SPIEGEL ONLINE: Welchen Einfluss haben denn gesellschaftliche Debatten und politische Stimmungen auf psychisch kranke Täter?

Saimeh: Es gibt natürlich viele psychische Erkrankungen, die meisten führen nicht zu Gewalttätigkeit. Wenn wir hier von Gewalt reden, reden wir über eine sehr kleine Gruppe psychisch kranker Täter, vor allem mit schizophrenen Psychosen oder wahnhaften Störungen. Gesellschaftliche Themen können Bestandteil schizophrener Denkinhalte werden. In den Achtzigern gab es oft Wahnvorstellungen, in denen es um Strahlung ging. Das war kurz nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl. Heute sind es eben andere große Themen wie Brexit, oder in Deutschland die Flüchtlingskrise. Diese Themen können zum Beispiel auch in Halluzinationen auftauchen. Die Stimme im Kopf könnte also plötzlich sagen: "Du musst Deutschland retten." So hat die Wahnvorstellung dann plötzlich eine politische Färbung. Politisch im engeren Sinne sind deren Taten dann natürlich trotzdem nicht.

SPIEGEL ONLINE: Integrieren alle, die unter schizophrenen Psychosen leiden, das Weltgeschehen in ihre Wahnvorstellungen?

Saimeh: Glücklicherweise sind Menschen verschieden, auch bei psychischer Erkrankung. Es gibt Menschen mit religiösem Wahn, mit Vergiftungswahn oder solche, die sich verfolgt fühlen. Das hängt auch immer davon ab, welches Thema für welchen Menschen wichtig ist. Ich habe den Medien entnommen, dass sich der Angreifer von Cox schon früher für politisch radikale Vereinigungen interessiert hat. Das hat ja erst mal nichts mit psychischer Krankheit zu tun. Und sollte er psychisch krank sein - ich kann natürlich keine Ferndiagnose stellen -, dann kann es sein, dass dieses bereits früher bestehende Interesse in der Erkrankung eine besondere Bedeutung bekommen hat.

SPIEGEL ONLINE: Wie entstehen solche Wahnvorstellungen?

Saimeh: Losgelöst von dem Fall in Großbritannien: Schizophrene Psychosen führen zu einer deutlichen Veränderung des gesamten Persönlichkeitsgefüges und zum Verlust des Realitätsbezugs. Hinzu kommen oft wahnhafte Denkinhalte und oftmals auch Sinnestäuschungen, vor allem Stimmenhören. Auch gibt es Aufmerksamkeitsstörungen und Gedächtnisstörungen. Das Gehirn kann nicht mehr zwischen relevanten und irrelevanten Informationen unterscheiden. Es gibt eine genetische Komponente. In der Bevölkerung erkrankt nur ein Prozent. Kinder von schizophrenen Eltern haben ein stark erhöhtes Risiko, auch zu erkranken. Zur genetischen Veranlagung kommen noch sogenannte Life Events hinzu, also stressige Lebensphasen oder besondere Belastungen.

SPIEGEL ONLINE: In Köln stach ein Mann auf die Bürgermeisterkandidatin Reker ein. Auch er gab an, politisch motiviert zu sein. Vor Gericht hat der Gutachter eine "kombinierte Persönlichkeitsstörung mit paranoiden und narzisstischen Anteilen" festgestellt. Wo liegt der Unterschied zur schizophrenen Psychose?

Saimeh: Bei Persönlichkeitsstörungen bleibt die allgemeine Realitätskontrolle erhalten. Menschen mit Persönlichkeitsstörungen zeigen starre, unflexible Muster, wie sie Beziehungen gestalten und wie sie auf Anforderungen im Leben reagieren, also zum Beispiel auf Leistungsanforderung, Umgang mit Kollegen oder in Partnerschaften. Ihre Denkmuster sind unflexibel, aber sie bleiben in der Realität. Jemand mit einer paranoiden Persönlichkeitsstörung neigt eher zu Verschwörungstheorien. Er ist misstrauisch und vermutet ständig, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht und andere Leute feindliche Absichten haben.

Reker-Attentäter Frank S. bei der Gerichtsverhandlung

Reker-Attentäter Frank S. bei der Gerichtsverhandlung

Foto: Oliver Berg/ dpa

SPIEGEL ONLINE: Und so jemand ist voll schuldfähig?

Saimeh: Das ist eine komplizierte Frage. Wenn bei Ihnen eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert wird, sind Sie nach deutschem Strafrecht nicht automatisch vermindert schuldfähig. Unser Strafrecht sieht dann einen Verminderungsgrund, wenn die Störung einen gewissen Schweregrad erreicht hat.

SPIEGEL ONLINE: Wie stellt man das fest?

Saimeh: Dazu muss ein forensisch-psychiatrisches Gutachten erstellt werden. Das bedeutet viele Stunden Gespräche mit dem Angeklagten. Man lernt den Menschen kennen, findet heraus, wie er zu der Person wurde, die er heute ist. Welche Beziehungen für ihn wichtig sind und welche Lebensereignisse ihn geprägt haben. Nur so kann man feststellen, ob überhaupt eine psychische Störung vorliegt.

SPIEGEL ONLINE: Jemand mit einer schizophrenen Psychose ist nicht schuldfähig?

Saimeh: Richtig, er ist in den meisten Fällen entweder erheblich vermindert schuldfähig - oder sogar schuldunfähig. Es gibt etwas, dass nennt sich psychotische Situationsverkennung. Dann kann der Täter nicht mal das Unrecht der Tat erkennen. Solche Täter können nicht bestraft werden, sondern kommen zur Besserung und Sicherung in die forensische Psychiatrie.

SPIEGEL ONLINE: Britische Politiker wie Nigel Farage und Boris Johnson machen schon seit Wochen sehr polemisch und emotional Stimmung für den Brexit. Wenn politische Themen die Wahnvorstellungen kranker Leute beeinflussen, haben diese Politiker dann eine gewisse Mitverantwortung für solche Taten?

Saimeh: Nein, in Bezug auf eine unmittelbare Straftat eines psychisch Kranken halte ich das für polemisch und falsch. Psychische Erkrankungen, die zu Straftaten führen, haben eine eigene Dynamik. Ich sehe eher das Problem, dass durch die Verrohung der Diskussionskultur ein gesellschaftliches Klima entsteht, wodurch auch psychisch gesunde Menschen Gewalt eher legitimieren.

SPIEGEL ONLINE: Wie das?

Saimeh: Diese polemische und stark emotionale Debattenform führt ja zu einer Primitivierung des Denkens. Man zieht sich nur noch auf Schwarz-Weiß-Positionen zurück und tut so, als ob nur eine einzige Perspektive und Ansicht die vollständig richtige sei. Es entsteht ein Wir-gegen-die-Gefühl. Genau diese Mechanismen aber findet man auch bei Radikalisierungsprozessen. Menschen könnten sich so animiert fühlen, Gewalt auszuüben, weil sie die gesellschaftliche Ächtung nicht mehr fürchten. Sie können sich dann auf die Zustimmung zumindest eines Teils der Bevölkerung verlassen.

SPIEGEL ONLINE: Je komplexer die Verhältnisse, umso größer das Bedürfnis nach Radikalität?

Saimeh: Natürlich, denn alles bedingt stets sein Gegenteil. Die Welt ist ungeheuer komplex geworden, und durch die weltweite Verfügbarkeit von Informationen haben wir an dieser Komplexität teil, überschauen die Dinge aber nicht mehr und können vielen Problemen selbst nicht einfach abhelfen. Und je nachdem, wie meine eigene Lebenssituation ist, fühle ich mich vielleicht als Opfer dieser Komplexität. Das macht so anfällig für Radikalisierung oder Verschwörungstheorien. Radikalisierung reduziert Komplexität. Je radikaler ein Ansatz, desto mehr vermeintliche Stabilität und Gewissheit verleiht er. Aber de facto verschwinden differenzierte Lösungsansätze. So, als ob Sie für jede Operation nur ein einziges Instrument haben. Der Begriff "Lügenpresse" zeigt ganz anschaulich so ein sensitiv-paranoides Denkmuster. Es wird vermittelt, dass den Bürgern die eigentliche Wahrheit durch das Zusammenwirken irgendwelcher Verschwörungszirkel vorenthalten wird. Dem muss man entgegenwirken. Polemik ist aber nicht hilfreich, von keiner Seite.

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