Juden in Krakau Reise nach Zydoland
So jüdisch wie heute war Krakau noch nie. Rund 70.000 Juden lebten vor dem Krieg in der Stadt an der Weichsel, sie machten etwa ein Viertel der Bevölkerung aus. Heute zählt die jüdische Gemeinde genau 176 Mitglieder, es sind vor allem ältere Menschen, die nicht sehr mobil sind.
Dennoch ist Krakau voller Juden, man sieht sie überall, in den berühmten Tuchhallen auf dem "Rynek", dem historischen Herzen der Stadt, in den Geschäften, den Souvenir- und Buchläden, den Galerien und Cafés. Man kann sie auf den ersten Blick als Juden erkennen. Sie tragen einen Kaftan, den schwarzen Gehrock, haben lange Schläfenlocken und große krumme Nasen im Gesicht und einen Hut oder wenigstens die "Kippa" auf dem Kopf. Viele spielen den ganzen Tag Geige oder Klarinette, allein oder in kleinen Gruppen, während andere am Tisch sitzen und Geld zählen. Was sie auch tun, sie gehen typisch jüdischen Tätigkeiten nach, sorgen für Umsatz und "Verweilung" (Unterhaltung).
Das Schönste an den Krakauer Juden aber ist: Man kann sie kaufen, nach Hause mitnehmen und ins Regal stellen. Es gibt sie in allen Größen und Ausführungen, einzeln oder als Ensemble. Ein etwa 20 Zentimeter großer Jude aus Holz kostet 50 bis 80 Zloty (12 bis 20 Euro), eine jüdische Familie bekommt man schon für 160 Zloty, einen jüdischen Geldwechsler ("Einzelstück, von Hand gemacht") für 200 Zloty. Der gilt als Glücksbringer und kommt vor allem bei Hochzeiten und anderen Familienfesten als Geschenk zum Einsatz.
Auf die Frage, wo all die Juden herkommen, antworten die Händler mit drei Worten: "Aus der Gegend." Was historisch nicht einmal falsch ist. Denn nicht nur in Krakau gab es vor dem Krieg eine große jüdische Gemeinde, viele Juden lebten auch in den kleinen Orten auf dem Lande, die heute vollkommen judenfrei sind.
Das ist lange her. Dafür boomt jetzt das Geschäft mit jüdischer Folklore, Judenkitsch und Geschichte. Nicht nur wird überall Nippes zum Kauf angeboten, treten kostümierte Polen als Klezmer-Musiker auf, man kann auch "Touren auf Schindlers Spuren" unternehmen und "Trips nach Auschwitz-Birkenau" buchen, hin und zurück in klimatisierten Bussen.
"Meine Mutter sah sehr arisch aus, das hat uns geholfen"
Tadeusz Jakubowicz nennt so etwas "Zydoland", einen jüdischen Themenpark. Er wurde im alten Krakau geboren, 1938, ein Jahr vor dem Beginn des Krieges. Der Vater hatte eine Fabrik für Düngemittel, die Mutter kümmerte sich um die Kinder. Erst musste die Familie aus ihrer Wohnung in der Innenstadt ins Ghetto am anderen Ufer der Weichsel umziehen, dann wurde sie mit Tausenden anderer Juden in das Lager Plaszow umgesiedelt. 1943 gelang den Jakubowiczs die Flucht aus dem Lager in die Wälder, wo die Familie von polnischen Bauern ("einfache, anständige Leute") versteckt wurde. "Meine Mutter sah sehr arisch aus, das hat uns geholfen", sagt Tadeusz.
Nach dem Krieg besuchte er ein Gymnasium in Krakau, später eine Musikschule. Er spielte Vibraphon bei den Krakauer Philharmonikern und in kleinen Ensembles. "Tanzmusik lag mir mehr." Dass er Musiker wurde, war nicht nur eine Frage der Begabung. Er wollte einen Beruf haben, in dem er überall arbeiten konnte. Viermal stellten seine Eltern einen Antrag auf Ausreise, viermal wurde der Antrag abgewiesen. "Keine Ahnung, warum die ausgerechnet uns behalten wollten."
1967 wurde der Vater, Maciej Jakubowicz, festgenommen und neun Monate ohne Urteil in Haft gehalten. Er hatte sich geweigert, eine Resolution zu unterschreiben, in der Israel als "Aggressor" im Sechs-Tage-Krieg verurteilt wurde. "Danach war er ein gebrochener Mann".
1998 wurde Tadeusz Jakubowicz zum Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in Krakau gewählt. Nachdem Mitte der neunziger Jahre durch ein Gesetz die Religionsgemeinschaften entschädigt wurden, bekam auch die jüdische Gemeinde einen Teil ihrer Immobilien zurück. Dazu gehören zehn Synagogen und 16 Friedhöfe in Krakau, Nowy Sacz und Tarnow. "Wir haben genug Synagogen, es fehlen nur die Juden."
Von den insgesamt sieben Krakauer Synagogen werden nur noch zwei für Gottesdienste genutzt, die kleine "Remuh" in der ulica Szeroka jeden Freitag und Samstag und der große "Tempel" in der ulica Miodowa an den Hohen Feiertagen, wenn jüdische Touristen nach Krakau kommen. Die anderen dienen als Museen für jüdische Geschichte, Ausstellungsräume oder Jugendheime.
Der Gemeinde gehören auch einige alte Häuser in Krakau, deren Unterhalt, erzählt Jakubowicz, oft mehr kostet als sie einbringen. Hinzu kommt, dass einige der Mieter so arm sind, dass sie die Miete nicht bezahlen können oder wollen. "Sie wissen, dass wir sie nicht rausschmeißen werden." So etwas würde nur antisemitische Reflexe provozieren.
Sozialistische Tristesse mit hellen Farben vertrieben
Das dreistöckige Gemeindehaus an der Ecke Krakowska und Skawinska ist ein solider Bau vom Anfang des 20. Jahrhunderts, viel zu groß für den Bedarf der kleinen Kommune. Heute wird es untervermietet, eine Etage an eine Fluggesellschaft und eine an die Ukrainer, die in Krakau ein Konsulat unterhalten. Mit den Einnahmen finanziert Jakubowicz den Gemeindebetrieb. Er beschäftigt und bezahlt sieben Angestellte, darunter einen jungen Rabbiner, der aus Russland stammt, und Pani Malgosia; sie ist praktizierende Katholikin, hat Ernährungstechnik studiert und führt das Kommando in der Küche, der wichtigsten sozialen Einrichtung der Gemeinde.
Malgosia kauft ein, kocht, teilt die Portionen aus und kennt ihre Gäste beim Vornamen. Täglich kommen etwa zwei Dutzend ältere Menschen, sechs bekommen ihr Essen nach Hause gebracht. Die Speisen sind koscher, der Service kostenlos. "Wir geben für die Küche jeden Monat sechs- bis achttausend Zloty aus" sagt Jakubowicz, das sind 1500 bis 2000 Euro, viel Geld für polnische Verhältnisse.
Die Küche und der Speiseraum wurden vor kurzem vollkommen renoviert. Die sozialistische Tristesse wurde mit hellen Farben vertrieben. Wer hierher kommt, ist entweder arm oder nicht in der Lage, für sich selbst zu sorgen, oder beides.
Oder er will einfach nur einmal am Tag nicht allein sein. Wie Jozef Maksymowicz, der 1933 in einer Kleinstadt in der Ukraine geboren wurde. Er hat den Krieg als Kind im Versteck überlebt und aus Dankbarkeit den Namen seiner Retter angenommen. 1954 kam er nach Krakau, lernte, wie man Leder und Pelze bearbeitet. Außerdem sang er viele Jahre in einem Arbeiterchor. Jozef hat nie geheiratet, keine Angehörigen, keine Familie und macht sich Sorgen, weil ihm die Wohnung gekündigt wurde. Seine Rente reicht zum Leben, aber nicht, um auf dem freien Markt eine Bleibe zu finden. Wenn die Gemeinde ein Altersheim hätte, würde er sich sofort melden. In ein staatliches Heim mag er nicht gehen. "Da wäre ich nur eine Nummer." Und das Essen würde ihm nicht schmecken.
Celina, die am Nebentisch sitzt, kommt auch jeden Tag zum Mittag in die Gemeinde. Ihr Alter mag sie nicht verraten, nur, dass sie "vor über 80 Jahren in Krakau geboren wurde". Dass sie eine Tochter aus gutem Hause ist, sieht man ihr immer noch an. Sie kleidet sich schick und spricht ein schönes, altmodisches Polnisch. Den Krieg hat sie "mit arischen Papieren" überlebt, später wollte sie aus Polen weg, hatte "aber niemanden, zu dem ich gehen konnte". So blieb sie in Krakau. Jetzt sind alle ihre Freunde tot.
"Pani Celina", ruft Malgosia aus der Küche, "möchten Sie noch eine Portion Kompott haben?" "Vielen Dank", sagt Pani Celina, "heute nicht, aber heben sie mir bitte etwas für morgen auf."