Kampf um Meinungsmacht Springer lädt 68er zum Tribunal
Krise hin, Krise her: Wir leben in herrlichen Zeiten. Nichts bleibt, wie es ist. Nicht mal die Vergangenheit. Wer zum Beispiel glauben sollte, Geschichte wiederhole sich nicht, irrt gewaltig. Von wegen.
Fast 42 Jahre nach dem legendären "Springer-Tribunal" vom 9. Februar 1968 in Berlin soll es nun, im kommenden Oktober, ein Remake geben, besser: Eine Fortsetzung. Ironie der Geschichte: Der Axel-Springer-Verlag tritt diesmal selbst als Veranstalter auf. Der passende Ort ist schon gefunden: Das Springer-Hochhaus an der Rudi-Dutschke Straße. In einer heute verbreiteten Pressemitteilung des Verlags heißt es wörtlich: "Das 'Tribunal' wird über die Situation in Berlin um das Jahr 1968 herum debattieren und prüfen, welche Rolle die Blätter des Verlags Axel Springer, aber auch andere Publikationen und die Akteure der Studentenbewegung spielten."
Die Idee zum "Springer-Tribunal", das später, etwas heruntergekocht, "Hearing" hieß, entstand unter Studenten der FU Berlin nach der polemischen Berichterstattung der Springer-Presse zum Tod von Benno Ohnesorg. "Berliner Presse und Senat haben in hysterischen Reaktionen in den letzten Wochen bewiesen, dass sie einer politischen Diskussion nicht gewachsen sind", hieß es damals in einem Flugblatt aus dem Kreis der "Enteignet Springer"-Kampagne. Das zentrale Motiv der Springer-Gegner war die "Manipulationsmacht" eines übermächtigen Pressekonzerns. Das Hearing wurde damals zwar einberufen, aber gleich wieder vertagt - auf bisher unbestimmte Zeit.
Zur Wiederaufnahme der Debatte lädt der Verlag alle noch lebenden Beteiligten an der Vorbereitung des damaligen "Springer-Tribunals" ein. Außerdem werden Persönlichkeiten erwartet, die - auf welcher Seite auch immer - die Jahre um 1968 als Zeitzeugen erlebt haben. Ebenso einbezogen werden Autoren, die sich mit der Zeit publizistisch oder wissenschaftlich befasst haben.
Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender der Axel Springer AG, 1968 vier Jahre alt, betont: "Wir möchten wissen, wie es damals wirklich war. Uns ist bewusst, dass unser Haus und unsere Blätter seinerzeit journalistische Fehler gemacht haben. Wir haben dies in der Vergangenheit zugegeben und tun dies auch heute. Wir werden nichts vertuschen. Wir wünschen uns das allerdings auch von jenen, die bis heute unbeirrt an den alten Gewissheiten und Mythen festhalten. Vielleicht gelingt es uns gemeinsam, die damalige Zeit besser zu verstehen."
Besonders maliziös geht Döpfner in seiner Pressemitteilung auf die aktuelle Debatte um die vermeintliche finanzielle Beteiligung Hamburger Publizisten an der Anti-Springer-Kampagne ein: "An aufmerksamer Anteilnahme und Unterstützung der Vorbereitung des 'Tribunals' durch andere Verlagshäuser hat es damals nicht gefehlt. Das wünschen wir uns auch diesmal. Besonders freuen würden wir uns, wenn diejenigen Wettbewerber, die seinerzeit finanziell so großzügig waren, auch diesmal wieder einen kleinen Obolus zur Unkostendeckung entrichten würden."
Vor dem geistigen Auge rollt die herbstliche Szene kurz nach der Bundestagswahl bereits anschaulich ab: Ergraute 68er, die allesamt auf die 70 zugehen, packen noch einmal ihre Sachen und machen sich auf zum Springer-Hochhaus an der ehemaligen Mauer, das sie am Gründonnerstagabend 1968, nach dem Attentat auf Rudi Dutschke, eigentlich hatten stürmen wollen. Damals hatten sogar Polizeibeamte Verständnis für die Wut der Studenten gezeigt: "Wir verstehen Euch doch, aber treibt's nicht zu dolle", sagte einer von ihnen im nächtlichen Getümmel.
Lachsbrötchen statt Gummiknüppel
Diesmal wird alles anders sein. Statt Gummiknüppel und Wasserwerfer werden den Protestveteranen gewiss Lachsbrötchen und Prosecco angeboten. Das Haus wird ihnen offenstehen, und junge freundliche Hostessen werden ihnen den Weg weisen zum "Tribunal", das von ferne an die guten alten "Teach-ins" erinnern könnte. Herrliche Zeiten.
Kenner von Philosophie und Weltgeschichte werden freilich mäkelnd einwenden: Geschichte wiederholt sich nicht, aber wenn doch, dann nur als Farce.
Aber Mathias Döpfner meint es ernst.
Denn der Stachel sitzt tief, und die Wunde ist auch nach vier Jahrzehnten nicht geschlossen. Es geht um nichts Geringeres als um die Rehabilitierung des Axel-Springer-Verlags, um das Image des Konzerns, dessen publizistisches Flaggschiff, die "Bild"-Zeitung, zwar immer noch eine riesige Leserschaft hat, aber, trotz aller PR-Kampagnen mit Kati Witt und Barbara Schöneberger, auch einen nachhaltig schlechten Ruf.
Als Ursache allen Übels gilt die Anti-Springer-Kampagne der linken 68er, die bis weit ins bürgerliche Lager wirkte. "Enteignet Springer!" wurde zur massentauglichen Parole.
Dass die marktbeherrschende Stellung von Axel Springer damals aber nicht nur linksradikalen Studenten Sorge machte, zeigt ein Brief des liberalkonservativen "Zeit"-Verlegers Gerd Bucerius. Schon im Mai 1966 schrieb er an den "Lieben Axel", mit dem er schon Urlaubstage verbracht hatte: "Eine Macht, wie Sie sie aufbauen, verletzt die Verfassung." Vor seinen Kollegen John Jahr sen. und Richard Gruner klagte er über die "peinliche Selbstvergötterung" und "flegelhafte Machtbekundung" Springers, den er schlicht für einen "Paranoiker" hielt.
Bereits Mitte der Sechziger wurde ein durch Springers Expansion drohendes Meinungsmonopol zum Thema einer öffentlichen Debatte. SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein schrieb im August 1966: "Springers Konzern wächst, nicht gerade wie eine Lawine, aber wie ein gefräßiger Tumor." Im Mai 1967 schließlich befasste sich eine Kommission des Deutschen Bundestages mit den "Folgen der Konzentration für die Meinungsfreiheit".
Doch seitdem bekannt wurde, dass der Todesschütze des Studenten Benno Ohnesorg, der Polizeibeamte Karl-Heinz Kurras, zugleich Stasi-Agent war, wittert man Morgenluft im Springer-Hochhaus: Geschichte mag sich nicht wirklich wiederholen, aber vielleicht kann man sie ein bisschen umschreiben.
Döpfner fordert "differenzierte Auseinandersetzung"
Es sei an der Zeit, forderte Döpfner jüngst in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung", "dass sich die uneinsichtigen Protagonisten der 68er-Bewegung mal bei unserem Haus entschuldigen". Dem Unternehmen sei "Unrecht widerfahren in dieser Auseinandersetzung, die bis heute negativ auf unser Haus wirkt".
Damals, so verbreitet Verlagschef Döpfner heute, habe sich "die 68er-Bewegung, wissentlich und unwissentlich, zum Handlanger der SED machen lassen, um den Axel-Springer-Verlag als Feindbild und Fratze der freien Presse zu positionieren... Wenn es jetzt die Möglichkeit gibt, das von der SED-Propaganda geprägte Geschichtsbild Springers zu korrigieren, dann muss man sich als Unternehmensverantwortlicher hierfür engagieren und kann sich nicht wegducken, zumal der Konzern bis heute an diesem falschen Bild Schaden nimmt". Er fordere nur "eine differenzierte Auseinandersetzung".
Sehr viel Differenzierung ist bislang allerdings noch nicht zu finden. Stattdessen wird versucht, dem 2. Juni 1967, unbestritten ein Fanal für die sich radikalisierende Protestbewegung, den Stasi-Stempel aufzudrücken. Und wenn man schon mal dabei ist, so kann man gleich die ganze Geschichte von 1968 irgendwie mit SED und Stasi verbinden: eine recht unverhohlene Kontaminationsstrategie.
Dabei könnte man es besser wissen: Jochen Staadt, einer der besten Stasi-Kenner und Mitglied einer Arbeitsgruppe, die der Springer-Verlag zur Erforschung der eigenen Geschichte eingesetzt hat, schätzt den Anteil der einschlägigen Beeinflussung durch SED und Stasi auf etwa 15 Prozent. Das ist schlimm genug, aber kein Grund, gleich die ganze 68er-Bewegung zum "Handlanger" von DDR-Interessen zu machen.
Noch absurder wirkt dieser Versuch, wenn man sich den weltweiten Kontext der Protestbewegung von Amerika bis Frankreich, von Italien bis Holland vor Augen führt. Nicht zu vergessen: Rudi Dutschke, 1967/68 das Feindbild Nummer eins der Springer-Blätter, war ein DDR-Flüchtling, der es gerade noch rechtzeitig vor dem Bau der Mauer am 13. August 1961 nach Westberlin geschafft hatte.
Aber klar, immer und überall gilt: Geschichtsschreibung dient stets zugleich gegenwärtigen Interessen. Unlängst versuchte auch Thomas Schmid, Chefredakteur der "Welt"-Gruppe, ein etwas freundlicheres Bild der Springer-Zeitungen aus der Zeit von 1967/68 zu zeichnen. Auf einer ganzen Zeitungsseite dokumentierte der einstige Mitstreiter von Daniel Cohn-Bendit und Joschka Fischer, dass es auch kritisch-differenzierte Berichterstattung gegeben habe.
Das ist richtig, aber nur ein kleiner Teil der Wahrheit. Denn entscheidend waren nicht einige ziselierte Kommentare in der "Welt", sondern die geballten Schlagzeilen von "Bild", "BZ" und "Berliner Morgenpost". Nach dem Tod Benno Ohnesorgs etwa kommentierte "Bild" am 3. Juni 1967: "Sie müssen Blut sehen. Hier hören der Spaß und der Kompromiss und die demokratische Toleranz auf... Wir haben etwas gegen SA-Methoden". Und die "BZ" schrieb: "Wer Terror produziert, muss Härte in Kauf nehmen." So wurden Opfer zu Tätern gemacht. Ein Blick ins Archiv reicht, um dutzendfach ähnliche Parolen zu finden.
Zudem gibt es eine ganz und gar unverdächtige Zeugin dieser Zeit: Elisabeth Noelle-Neumann, die konservative Demoskopin, untermauerte 1968 die Kritik an der Springer-Presse mit einer wissenschaftlichen Studie. Bei der Untersuchung der Artikel vom 3. bis 10. Juni 1967 attestierte Noelle-Neumann 83 Prozent der Springer-Blätter eine "polemisierende Berichterstattung", die sich nur bei sechs Prozent aller Zeitungen aus anderen Verlagen ausmachen ließ. Zudem enthielten 67 Prozent der Kommentare in den Springer-Titeln "Kritik an Demonstranten", die nur in 35 Prozent der anderen Zeitungen zu finden war.
Schon das Original war ein Flop
Ein neues "Springer-Tribunal" als Haupt- und Staatsaktion des Springer-Verlags ist nicht zuletzt deshalb ein merkwürdig überdimensioniertes und überambitioniertes Projekt, weil das historische "Vorbild" ein echter Flop war. Viele prominente Teilnehmer wie Heinrich Böll, Hans Magnus Enzensberger und Ernst Bloch hatten kurzfristig abgesagt, nachdem im Anschluss an ein großes Vorbereitungstreffen am 1. Februar in der Technischen Universität die Scheiben mehrerer Springer-Filialen in Berlin eingeworfen worden waren. Unter den Steinewerfern waren übrigens Rudi Dutschke und der weltberühmte Komponist Hans Werner Henze. Zuvor hatte ein kurzer Film des späteren RAF-Terroristen Holger Meins über den Bau von "Molotow-Cocktails" die Stimmung aufgeheizt. Die Organisatoren hatten davon angeblich nichts gewusst.
Kann es ein besseres empirisches Beispiel geben für die These des Schriftstellers Peter Schneider, dass die meisten "Ideen wie Idiotien" der 68er selbstverständlich "auf ihrem eigenen Mist gewachsen" seien?
Heute sagt Schneider, damals" Sekretär" des nur wenige Stunden dauernden Schrumpf-Tribunals: "Ein Springer-Tribunal im Hause Springer - das ist wohl eher ein PR-Gag. Man muss sehen, wie ernst der Vorschlag gemeint ist. Wenn Mathias Döpfner einen Mann wie Jürgen Habermas als Vorsitzenden gewinnen würde, könnte man neugierig auf die Veranstaltung sein."
Die 68er und der Axel-Springer-Verlag - wie es scheint, eine unendliche Geschichte. Gerd Koenen, Chronist der Protestbewegung, hat schon vor Jahren in seinem Buch "Das rote Jahrzehnt" (2001) die Dialektik zwischen 68ern und Springer-Presse als "unauflöslichen double-bind von narzisstischer Selbstinszenierung und medialer Vermittlung" beschrieben. Die "hysterischen Schlagzeilen, Berichte und Karikaturen von 'B.Z.', 'Morgenpost', 'Welt' und 'Bild'" hätten den "jugendlichen Protestlern" jene "umstürzlerische Bedeutung zurückgespiegelt, die sie sich selbst unbedingt zuschreiben wollten". Alt-68er Klaus Hartung ergänzt: "Die 'Bild'-Zeitung insbesondere legte uns auf die Revolution fest, als diese für uns noch ein historischer Begriff war."
Nicht zufällig befand sich zeitweilig das zweitgrößte "Bild"-Archiv in Berlins Kommune 1 von Rainer Langhans, Fritz Teufel, Dieter Kunzelmann und Uschi Obermaier. Akribisch hefteten die Kommunarden jeden Artikel ab, der noch die kleinste Straßenaktion zum gefährlichen revolutionären Umtrieb stilisierte. Motto: Viel Feind, viel Ehr'!
Ihnen müsste Mathias Döpfner eigentlich eine Extra-Einladung schicken - als Experten der Sonderklasse. Einziges Risiko: Das Tribunal wird zur aktiven Gruppentherapie umfunktioniert.