

Als der Zweite Weltkrieg am 8. Mai 1945 mit der Kapitulation des Deutschen Reiches endet, steht Emil Zigel als Soldat der Roten Armee mitten in der Schlacht um Berlin. 68 Jahre später posiert er in seiner Uniform für die Kamera, die Brust ordensgeschmückt, in der Hand ein Schwarzweißbild, das ihn selbst als jungen Soldaten zeigt.
Das Foto ist Teil einer Serie, die der israelische Fotograf Abir Sultan, 27, von jüdischen Veteranen der Roten Armee gemacht hat - in Israel. Dort, in der Stadt Rehovot, lebt auch Emil Zigel. Er ist einer von einer halben Million Juden, die während des Zweiten Weltkriegs in der Roten Armee kämpften. Etwa 200.000 von ihnen fielen im Krieg, etwa 7000 der überlebenden Veteranen wohnen heute in Israel.
Ein Gutteil davon kam erst nach Zusammenbruch der Sowjetunion ins Land. Viele sprechen kein Hebräisch, sondern lediglich Russisch. Bei der Arbeit an den Porträts der Veteranen war Abir Sultan darauf angewiesen, dass deren Nachfahren die Erinnerungen ihrer Groß- oder Urgoßväter - und einer Großmutter, die als Krankenschwester in Moskau diente - für ihn übersetzten.
Sultan traf auf hochdekorierte Frontkämpfer, die nicht überredet werden mussten, ihre Auszeichnungen vorzuzeigen; sich an die einstigen körperlichen Verwundungen, die sich unter den Uniform verbergen mochten, aber ebenso spärlich erinnerten wie an Kriegstraumata, an Grausamkeiten oder gar die Verschleppung durch die Deutschen, der manche von ihnen zum Opfer gefallen waren.
Zionismus und US-Imperialismus
Auf den Porträtaufnahmen wirken ihre Blicke vielsagend, ernst, erfüllt vom Wissen um den erlittenen Schmerz, und doch posieren sie für die Kamera nicht ohne Stolz. Anders als jene Gleichaltrigen, die auf der Seite der deutschen Wehrmacht und ihrer Verbündeten auf den Krieg zurückblicken und in der Bundesrepublik zuletzt, ausgelöst durch die Fernsehserie "Unsere Mütter, unsere Väter", im Mittelpunkt einer Debatte um Kriegserinnerungen standen, können die Sowjetsoldaten jüdischer Konfession von sich sagen, nicht Teil eines Vernichtungskriegs gewesen zu sein - sondern ihr Leben eingesetzt zu haben, um den von den Nationalsozialisten in Gang gesetzten Massenmord zu beenden.
Es hätte allerdings dem Selbstverständnis der Sowjetunion widersprochen, in ihren Erinnerungsritualen auf die jüdischen Kämpfer einzugehen. Der Sowjetmensch hatte schließlich keine Konfession. Antisemitismus aber gab es auch in der UdSSR: Stalin stand im Ruf, keine Juden um sich haben zu wollen; Intellektuelle jüdischen Glaubens, so Isaak Babel, fielen Säuberungen zum Opfer. Weitab der Metropolen, im Osten Sibiriens, in der Sumpfebene von Birobidschan wurde jüdischen Sowjetbürgern ein eigenes Siedlungsgebiet zugewiesen. Nach der Gründung Israels 1948 dann stand die Sowjetunion auf der Seite der Feinde des Landes in der arabischen Welt, Zionismus und US-Imperialismus gaben in der Rhetorik des Kalten Krieges ein Begriffspaar ab.
Der israelische Staat selbst hat die sowjetischen Veteranen lange Zeit nur zögerlich wahrgenommen. Erst 2012 wurde in Jerusalem ein Denkmal für die jüdischen Rotarmisten errichtet. Öffentlich sichtbar sind sie vor allem am Holocaust-Gedenktag, wenn sie in voller Uniform paradieren. Hier fielen die greisen Veteranen auch Amir Sultan auf - und ebenso dem israelischen Fotografen Oded Balilty, der fast gleichzeitig an einer ähnlichen Serie zu arbeiten begann. Anders als Sultan zeigt er die Veteranen nicht vor schwarzem Hintergrund und mit einem Jugendbild in der Hand, sondern in ihrer häuslichen Umgebung, auf dem Sofa, umgeben von Kuscheltieren, auf einem einfachen Bett oder, wie Boris Ginsburg, an einem gedeckten Tisch.
Ginsburg, von der deutschen Wehrmacht ab 1941 in einem weißrussischen Ghetto gefangengehalten, schloß sich nach seiner Befreiung 1942 Partisanen an und kämpfte ab 1944 in der Roten Armee. Erst Jahrzehnte später, 2001, emigrierte er nach Israel - und doch kann er, wie alle anderen Rotarmisten jüdischer Konfession, indirekt als Vorkämpfer dafür gelten, dass es dieses Land überhaupt gibt.
Israels Mütter, Israels Väter - das sind auch diese Krankenschwestern und Soldaten.
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Emil Zigel, 88, war als Soldat der Roten Armee an der Eroberung Berlins im Frühjahr 1945 beteiligt. Heute lebt er in der israelischen Stadt Rehovot. Sein Porträt ist Teil einer zehnteiligen Serie, die der israelische Fotograf Abir Sultan von jüdischen Veteranen der Roten Armee gemacht hat.
Der einstige Rotarmist Shalom Skopas, 88, posiert für den Fotografen Abir Sultan in Tel Aviv.
David Trbielsky, 91, diente bei der sowjetischen Marine. Auf dem Schwarzweißbild in seiner Hand ist er 21 Jahre alt.
Michael Zigron, 88, diente als Infanterist.
Ion Dagan, 88, kämpfte als Rotarmist während des Zweiten Weltkriegs in der Ukraine.
Yelena Kojlekova, 90, war als 18-Jährige Krankenschwester der Roten Armee. Das kleine Foto in ihrer Hand zeigt sie mit Akkordeon neben ihrem Ehemann.
Naum Orlov, 88, einstiger Marinesoldat der Roten Armee mit einem Foto, das ihn als 20-Jährigen zeigt.
Michael Styskin, 85, lebt heute im israelischen Ashkelon. Er kämpfte bereits mit 16 Jahren für die Sowjetunion.
Michael Dezaze, 88, war als 20-Jähriger in der Ostsee auf einem sowjetischen Minenleger unterwegs.
Zavelei Klainer, 91, war während des Zweiten Weltkriegs in Lettland stationiert. Auf Abir Sultans Aufnahme hält er ein Porträt in Händen, das ihn als 21-Jährigen zeigt.
Yaakov Vilkovich, 90, auf einem Porträt des israelischen Fotografen Oded Balilty. Vilkovich war im Mai 1945 an der Schlacht um Berlin beteiligt. 1998 wanderte er nach Israel aus.
Boris Ginsburg, von der deutschen Wehrmacht ab 1941 in einem weißrussischen Ghetto gefangen gehalten, schloß sich nach seiner Befreiung 1942 Partisanen an und kämpfte ab 1944 in der Roten Armee. 2001 emigierte er nach Israel.
Tchudnovsky Itzhak war Artilleriekommandant an der Front um Stalingrad.
Michael Sandler, 93, Sowjetsoldat bereits ab 1939, kämpfte nach Kriegseintritt der Sowjetunion unter anderem in Stalingrad, Berlin und Prag.
Aharon Kavishaner wurde 1942 eingezogen. Er war Luftwaffenmechaniker an der ukrainischen Front. 1991 emigierte er nach Israel.
Nahum Matovich, 87, kämpfte als Luftwaffenpilot an der ostasiatischen Front in Japan und Korea. Er flog einen Iljuschin Il-4-Bomber. Aus der Republik Moldau wanderte er 1994 nach Israel aus.
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