Theater in Wiener Neustadt Der begehbare Erste Weltkrieg

Der Theaterwüterich Paulus Manker inszeniert in einer Industriehalle das Karl-Kraus-Drama "Die letzten Tage der Menschheit" - und schickt die Zuschauer mitten hinein in den mörderischen Trubel der Jahre zwischen 1914 und 1918.
Die letzten Tage der Menschheit/ Serbenhalle, Wiener Neustadt

Die letzten Tage der Menschheit/ Serbenhalle, Wiener Neustadt

Foto: Sebastian Kreuzberger

Der Kultursommer in Österreich ist meistens ein sonniges Vergnügen, doch in dem ansehnlich vergammelten Industriebau, den sie in Wiener Neustadt "Serbenhalle" nennen, ist er ein sechseinhalb Stunden langer Abstieg in die Hölle. Man sieht Fackeln, Feuerschalen und Leuchtbuchstaben lodern und Rauch aus den Innereien eines rostigen Uraltpanzers aufsteigen. Man hört Schrapnellgeschosse donnern und Musik von Richard Strauss und Gustav Mahler jauchzen. Und man fiebert mit, während sich auf einem Stahlgerüst, das auf einen Eisenbahnwaggon geschweißt ist, Männer in Militäruniformen und Frauen in schönen langen Kleidern die Angst, den Hass und die Liebe aus dem Leib brüllen.

Während andere Theatermacher in Mörbisch am See die "Gräfin Mariza" spielen oder in Salzburg für den "Jedermann" und die "Zauberflöte" proben, zeigt der Regisseur Paulus Manker in der südlich der österreichischen Hauptstadt gelegenen Gemeinde Wiener Neustadt seine Version des Karl-Kraus-Dramas "Die letzten Tage der Menschheit". Das fast 800 Seiten dicke Werk, 1922 veröffentlicht, erzählt vom Wahnsinn des Ersten Weltkriegs und vom Zusammenbruch der K.u.K-Monarchie - und es gilt als unspielbar. Mehr als 1000 verschiedene Figuren treten darin auf, in 220 Szenen, die in Ausflugslokalen, Büros, Amtsstuben und Palästen angesiedelt sind. Manker zeigt nun mit einer frei zusammengestellten Truppe von rund 30 Schauspielerinnen und Schauspielern und etlichen Kinderdarstellern in einer monumental konzipierten Bilderschlacht immerhin 75 der Stückszenen. Seine Zuschauer verköstigt er nicht nur mit einem als "Leichenschmaus" deklarierten Menü, sondern er lädt sie auch zum Benutzen ihrer Smartphones und Tablets ein.

Per Handzettel und Programmheft verteilte QR-Codes sollen den Theatergästen in Wiener Neustadt helfen, ihr Wissen über das große Menschengemetzel und den Text von Karl Kraus zu vertiefen. Die Serbenhalle und ein paar auf zwei Stockwerken gelagerte Nebenräume sind hergerichtet wie ein prächtiger Kaiserglanz- und Weltkriegs-I-Besucherpark. Der Ausstatter Georg Resetschnig hat unter anderem eine Zeitungsredaktion mit antiquierten Schreibmaschinen, eine Badeanstalt und ein Soldatenlazarett in die Fabriklandschaft hineingebaut. Die Räume sind nicht nur zum Bestaunen, sondern auch zum Anfassen und Benutzen gedacht.

Der Erste Weltkrieg als Gesamtkunstwerk aus Feuer, Krawall und vielen Worten

"Sie betreten", heißt es im Programmheft, "sozusagen einen fremden Planeten." Die Zuschauer dürfen sich auf Redakteursstühle lümmeln, in klapprigen Krankenhausbetten zum Probeliegen niederstrecken und die Hände ins Badewannenwasser tauchen. Sie werden auf rollende Aussichtsplattformen hinaufkomplimentiert und hinausgekarrt in eine verwilderte Steppe vor der Serbenhalle, wo Soldaten im Gebüsch kauern und mit alten Gewehren herumballern. Der Erste Weltkrieg ist hier eine begehbare, von Flammen illuminierte, von Geschützlärm und Musik durchtoste Skulptur. Ein Gesamtkunstwerk aus Feuer, Krawall und vielen Worten.

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Theater in der Wiener Neustadt: "Die letzten Tage der Menschheit" in Bildern

Foto: Sebastian Kreuzberger

Da sieht man zum Beispiel die junge Darstellerin Iris Schmid mit wallendem Haar, vorgerecktem Kinn und umgehängter Kamera als Kriegsreporterin antreten; im bodenlangen Ledermantel stolziert die Journalistendarstellerin auf sterbende Soldaten zu und fragt sie treuherzig, was sie denn gerade fühlten. Dann preist sie das "herrliche Schauspiel des Kriegs". Natürlich muss man angesichts solcher Momente an den Zynismus heutiger Medienmenschen denken; sie sind aber auch nah am Kern von Karl Kraus' Drama, der die Presse als eine hohle Macht verhöhnte, die allenfalls die "Zwetschken von den Bäumen" rüttle.

Der Stücktext des manischen Sammlers Kraus ist eine Montage aus chronologisch geordneten Schnipseln, die aus der Perspektive eines Zeitungslesers das historische Chaos schildern: die Begräbnisfeierlichkeiten für den in Sarajewo ermordeten österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand zum Beispiel, die anfängliche Kriegsbegeisterung auf Wiens Straßen, das Gezeter von Huren und Restaurantbesitzern, die Bürokratie eines Militärstaats, die Couplets der Wiener Volkssänger. "Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen", schrieb Karl Kraus über sein Stück, "ich habe gemalt, was sie nur taten. Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate." Er selbst behauptete, sein Monsterdrama sei "einem Marstheater zugedacht", weil es auf einer gewöhnlichen Menschenbühne nie aufgeführt werden könne.

Erst nach Mitternacht wird zum letzten Mal "Wiener Blut" gesungen

Natürlich haben sich trotzdem immer wieder Regisseure an "Die letzten Tage der Menschheit" gewagt und zumindest Teile des Riesenwerks mit Schauspielern einstudiert; von der Kritik gelobt und vom Publikum gefeiert wurden unter anderem die Inszenierungen von Hans Hollmann in den Foyergrotten des Basler Theaters im Jahr 1974 und die von Hans Kresnik im U-Boot-Bunker Valentin bei Bremen im Jahr 1999 - in beiden Fällen, so kann man nachlesen, handelte es sich um Stationendramen, deren Zauber nicht zuletzt darin bestand, dass sie jenseits der Guckkastenbühne stattfanden. Auch der Regisseur Manker setzt auf ein Prozessionstheater, das die Zuschauer die Kriegsgräuel und Seelendesaster einer grausamen Zeit nun in der Atmosphäre von Kaffeehaus und Volkssängerbühne erleben lässt.

Der Schauspieler und Regisseur Manker ist 60 Jahre alt und berühmt unter anderem für tolle Auftritte unter dem Regiemeister Peter Zadek und für sein glorioses Alma-Mahler-Spektakel "Alma", das er in den vergangenen 22 Jahren immer wieder aufgeführt hat - zum Beispiel in der Serbenhalle in Wiener Neustadt. Paulus Manker ist aber auch berüchtigt für das rumpelstilzhafte Benehmen, das sein öffentliches Reden und mitunter auch seine künstlerische Arbeit kennzeichnet. "Die letzten Tage der Menschheit" hat er nahezu ohne staatliche oder städtische Förderung produzieren müssen, weshalb die Tickets für die vorläufig zwölf Aufführungen in Wiener Neustadt jeweils 145 Euro kosten; Menübewirtung, vom Bühnenpersonal freundlich verteilter Kaffee und Süßspeisenangebot inklusive. Manker selbst hat vor der Premiere verkündet, dass er mit dem Kraus-Projekt seinen Bankrott riskiere, mittlerweile ist die Mehrzahl der Vorstellungen ausverkauft.

In sechseinhalb Stunden präsentiert "Die letzten Tage der Menschheit" fast zwangsläufig auch Momente des lärmenden Leerlaufs, in denen die Inszenierung ähnlich waghalsig und bedrohlich herumzuirren scheint wie die Mitspieler, die sich im Halbdunkel der Serbenhalle immer wieder ihren Weg durch die Zuschauermenge bahnen. Manchen der auftretenden Schauspielerinnen und Schauspieler würde man die Hilfe von Mikroports wünschen, dank derer sie ihre arg strapazierten Stimmbänder schonen könnten. Wenn aber weit nach Mitternacht die letzten Militärkatastrophen verkündet sind und das allerletzte "Wiener Blut" gesungen ist, wenn die Fackeln lauter zu Boden gesackte zerstörte Menschen beleuchten, wenn eine junge Frau einen allerletzten schrecklichen Liebesbrief verlesen hat, den sie an die nicht mehr existierende Front schickt - dann hat sich zumindest ein schöner Teil der Hoffnung des Stückeschreibers Karl Kraus erfüllt, sein Stück werde als "restloses Schuldbekenntnis, dieser Menschheit anzugehören", begriffen werden und eines fernen Tages tatsächlich "irgendwo willkommen und von Nutzen sein".

"Die letzten Tage der Menschheit." Wiener Neustadt, Serbenhalle. Weitere Vorstellungen am 15., 20., 21., 27., 28. und 29. Juli sowie 3., 4., und 5. August, www.letztetage.com 

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